«Tages-Anzeiger»: Gemeinden haben grösste Mühe, einen Gemeindepräsidenten oder einen Gemeinderat zu finden. Wie ernst ist die Lage des Milizsystems?
Andreas Müller: Das Gebäude des Milizsystems bröckelt stark. Alle paar Jahre werden die Gemeinden befragt, wie es um ihr Milizsystem steht, und bei jeder Umfrage geben mehr an, dass sie Schwierigkeiten haben, ihre Ämter zu besetzen. Man muss sich vorstellen: In der ganzen Schweiz gibt es bei Gemeinden, Schulgremien und Kirchen 100’000 Milizämter, die ständig besetzt sein müssen. Bis jetzt konnte man die Krise des Milizsystems noch überspielen. Aber wenn es so weitergeht wie in den vergangenen Jahren, wird das bald nicht mehr möglich sein. Dann braucht es eine Grundsatzdiskussion.
Milizämter sind schlecht bezahlt.
Die Gemeinden zahlen ihren Amtsträgern tendenziell mehr als früher. Aber nicht das Geld ist das Problem, sondern die Zeit. Viele Personen sind heute im Beruf stärker gefordert als früher und können sich nicht zusätzlich engagieren. Auch hat ein Amt nicht mehr dasselbe Prestige wie früher. Milizpolitiker stehen häufig in der Kritik – sobald etwa die Steuern erhöht werden müssen, bekommt der Gemeindepräsident böse Mails. Gegen den mangelnden Respekt gegenüber Amtspersonen lässt sich am allerwenigsten tun.
Wenn ein Amt besser honoriert würde, bräuchten deren Träger daneben weniger zu arbeiten.
Im Kanton Luzern etwa werden vollamtliche Geschäftsführer eingesetzt, welche die Exekutivmitglieder unterstützen, die im Nebenamt tätig sind. Das allerdings kann zu einer schleichenden Professionalisierung führen. Ausgerechnet jene Person, die nicht gewählt wurde, wird dann zum starken Mann oder zur starken Frau in einer Gemeinde – weil sie einen grossen Wissensvorsprung gegenüber den Gewählten hat.
Heute fusionieren Gemeinden, weil sie nicht alle Ämter besetzen können.
Mittlerweile ist dies in vielen Fällen oft ein wichtiger Grund für eine Fusion. Aber selbst wenn eine Gemeinde fusioniert, heisst dies nicht zwingend, dass das Problem gelöst ist. Manche Bürgerinnen und Bürger könnten sich weniger mit dem Fusionsprodukt identifizieren und engagieren sich nicht mehr. Nur: Wenn kleine Gemeinden autonom bleiben und sich selber regieren wollen, braucht es Leute, die sich für ein symbolisches Entgelt für das Gemeinwohl einsetzen.
Letztlich führt die Personalnot dazu, dass kleine Gemeinden verschwinden.
Nicht nur das: Ohne Milizsystem würden auch der Föderalismus und die Subsidiarität infrage gestellt. Deren Idee ist es, dass Entscheidungen auf der untersten Staatsebene in der kleinsten Einheit gefällt werden können, also möglichst nah bei den Bürgerinnen und Bürgern. Wenn Gemeinden in grösseren Einheiten aufgehen, ist dies nicht mehr möglich. Es besteht auch ein Zusammenhang mit der direkten Demokratie: Das Milizsystem sorgt dafür, dass die Bürger nicht zu Politkonsumenten verkommen. In einer Gemeindeexekutive etwa müssen sie nach Lösungen suchen, die für alle annehmbar sind, und sie müssen Kompromisse eingehen. Sie lernen, seriös zu politisieren. Die Schweiz läuft so weniger Gefahr, dass eine Politik von Schlagworten, Parolen und teuren Kampagnen betrieben wird.
Gibt es eine Alternative zum Milizsystem?
In anderen Ländern hat sich die Politik professionalisiert. Es hat sich eine «Classe politique» herausgebildet, eine kleine, in sich geschlossene Elite, die das Sagen hat. Das würde in der Schweiz nicht akzeptiert. Das Milizsystem verhindert, dass eine herrschende Politklasse entsteht, denn jeder Teilzeitpolitiker ist auch Bürger und Wirtschaftsteilnehmer. Nur: Die Bürger müssten auch Politiker sein wollen. Sie sollten, wie es John F. Kennedy sagte, nicht schauen, was der Staat für sie tun kann, sondern was sie für den Staat tun können. So würde das soziale Kapital der Bevölkerung fruchtbar gemacht. Aber das kann man nicht befehlen.
Kantone wie Uri tun es.
Uri kennt den Amtszwang. Viele, die unter Zwang ihr Amt angetreten haben, sind aber wenig motiviert und treten oft zurück, sobald sie ihr Soll erfüllt haben. So geht viel Wissen verloren.
Ist das Milizsystem noch zu retten?
Dazu gibt es verschiedene Prognosen – hoffnungsvolle und pessimistische. Ein Problem sind die grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen. Die Leute sind mobiler als früher. Viele wohnen nicht mehr dort, wo sie aufgewachsen sind, und fühlen sich ihrer Wohngemeinde weniger verbunden. Schon Pendlergemeinden haben grosse Mühe, Milizpolitiker zu finden.
Was schlagen Sie vor?
Es wurden schon viele Reformen eingeleitet, trotzdem zeichnet sich keine Trendwende ab. Wenn sich die Situation weiter zuspitzt, hätte ein Bürgerdienst vielleicht eine Chance. Die Idee von Avenir Suisse ist, dass jeder Bürger und jede Bürgerin im Laufe des Lebens etwas für den Staat tun muss. Das kann – wie bisher – der Militärdienst oder Zivildienst sein. Im Unterschied zu heute könnte aber auch ein öffentliches Amt in der Gemeinde als Bürgerdienst angerechnet werden.
Dieses Interview ist im Tages-Anzeiger vom 29. Juni 2016 erschienen. Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.