Eines kann man Thomas Maissen, dem Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Paris, mit Sicherheit nicht unterstellen: Dass er ein unverbesserlicher Optimist sei. Sein Vortrag für die Aussenpolitische Aula, der Veranstaltungsreihe der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik (SGA) und Avenir Suisse, war gespickt mit Argumenten und Fakten, warum sich die politisch schwierige Situation in vielen europäischen Ländern und den USA noch verschärfen könnte.
Grenzübergreifende Kooperation der extremen Nationalisten
Viele Menschen fühlen sich von den gegenwärtigen politischen Entwicklungen überrumpelt und sind erstaunt über das Ausmass der Aggressivität, mit der politische Haltungen aufeinandertreffen. Laut Maissen handelt es sich hierbei in keiner Weise um ein neues historisches Phänomen. Er zog eine erste Parallele zur Schweiz des Jahres 1847, als im Sonderbundskrieg nicht mehr die Kantonsgrenzen relevant waren, sondern Liberale gegen Konservative antraten. Damals zogen viele Männer für die Verteidigung ihrer religiösen Werte in den Krieg, obwohl es im Konflikt letztlich um eine nationale Verfassung ging. Auch im 20. Jahrhundert drehten sich die meisten militärischen Auseinandersetzungen wieder um Ideologien: Kommunisten gegen Faschisten gegen liberale Bürgerliche.
Wenn heute wieder ideologische Fronten quer über den Globus verlaufen und populistische Parteien sich über nationale Grenzen hinweg annähern, ist dies nur eine weitere geschichtliche Episode. Erheblich verstärkt wird sie laut Maissen allerdings durch die sozialen Medien, in denen Meinungen ungefiltert weitergegeben werden, während der Einfluss der traditionellen Medien schrumpft. Zu denken gibt auch, dass der «Trump-Geburtshelfer» Steve Bannon für die Europawahlen 2019 die extremen nationalen Parteien des Kontinents mit einer Bewegung unter dem Namen «The Movement»einigen will.
Kollektivisten kontra Individualisten
In den Medien dominieren Slogans wie «America First». Den grundlegenden Konflikt sieht Maissen jedoch auf der Werteebene, wo er – grob gesagt – zwischen Kollektivisten und Individualisten unterscheidet. Die gemeinschaftsorientierten Kollektivisten orientieren sich gerne an Werten und sehen Familie, Volk oder auch Geschlechterrollen als naturgegebene Bedingungen des Menschseins an. Ihnen gegenüber stehen die liberalen Individualisten, die sich an rechtsstaatlichen Normen ausrichten, und die eher die kulturelle Fähigkeit des Menschen betonen, seine Lebensform selbst zu wählen. Laut Maissen bilden sich gerade zwei Grossstämme auf der Welt, die sich eindeutig erkennen und voneinander abgrenzen, und zwar so klar, dass er sogar einen «Weltbürgerkrieg»nicht mehr ausschliessen will.
Streit war gestern
Die unterschiedlichen Wertehaltungen sind kein Problem, solange der offene politische Diskurs eine Chance bekommt. Problematisch wird es, sobald der politische Gegner zum existenziellen Feind hochstilisiert wird, den man umgehend aus der Politik, der medialen Öffentlichkeit, den Institutionen, ja sogar aus dem Land verdrängen will. In ihrer Methodik ähneln sich Orban, Kaczynski, Erdogan oder Putin, weil sie der pluralistischen Gesellschaft eine Absage erteilen. Wer nicht für sie ist, gehört auch nicht zum «Volk», sondern zu «den Anderen».
Vom richtigen Umgang mit extremen Positionen
Was bedeuten diese Entwicklungen für die Zukunft, für die Schweiz? In der von Ursula Hürzeler geführten Diskussion ging es um den richtigen Umgang mit Extrempositionen. Während Hans-Jürg Fehr, SGA-Vorstandsmitglied und alt Nationalrat, für die Nichtkooperation plädierte, zeigte sich Avenir-Suisse-Forschungsleiter Patrick Dümmler gelassener, weil er auf das Potenzial der Populisten vertraut,«sich selbst zu entzaubern», sobald sie in der Verantwortung stehen. Eine akute, existenzielle Gefahr durch Populismus für das demokratische System der Schweiz sah keiner der Podiumsteilnehmer – das Vertrauen in die Institutionen scheint intakt. Selbst Thomas Maissen versprühte in seinem Schlussplädoyer noch Optimismus und warnte vor einer allzu deterministischen Sicht, weil sie das Handeln zu sehr einengen würde.
Vielleicht bietet gerade der friedliche Verlauf der Schweizer Geschichte nach dem Sonderbundskrieg Anlass für mehr Gelassenheit. Eine wichtige Lehre aus der Vergangenheit könnte nämlich sein: Unterschiedliche Werte müssen nicht trennen. Sie können ein Land, einen Kontinent sogar verbinden – solange man nicht aufhört, miteinander zu reden.
Die «Aussenpolitische Aula» in der Universität Bern wird jeweils gemeinsam von der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik und Avenir Suisse organisiert und findet drei Mal pro Jahr statt.