Es wird sich bald zeigen, wie ernst es unsere Politik mit der AHV-Reform meint. In der jetzt laufenden Session berät der Ständerat als erste Kammer das Geschäft. Die Zeichen für den Reformwillen waren schon deutlicher. Während der Handlungsbedarf vor wenigen Monaten noch vom linken bis zum rechten Lager klar anerkannt wurde, bröckelt dieser Konsens nun in der Detailberatung kräftig.

Ein Sanierungsfall

Gemäss den kürzlich von Bundesamt für Sozialversicherung aktualisierten Finanzperspektiven beträgt das kumulierte Defizit der AHV in den nächsten zehn Jahren 23 Mrd. Franken. Selbst in Pandemiezeiten, wo sich Bürger und Politiker auf Milliardenbeträge gewöhnt haben, ist das eine stolze Summe. Und dies, obwohl vor noch knapp einem Jahr die Lohnbeiträge um 0,3 Prozentpunkte und die Bundesmittel erhöht wurden, um der AHV jährlich 2 Mrd. Fr. Zusatzeinnahmen zu sichern. Bei der Reform geht es also nicht um Kosmetik, sondern um die Sanierung eines der wichtigsten Sozialwerke der Schweiz. Dass Sanierungen weh tun, lässt sich nicht wegdiskutieren.

Zwei wichtige Massnahmen sollen nach dem Vorschlag des Bundesrats die AHV-Finanzen wieder ins Lot bringen: eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,7 Prozentpunkte und die Anpassung des Frauenrentenalters auf dasjenige der Männer. Letztere sollte Einsparungen von ca. 1,4 Mrd. Fr. pro Jahr ermöglichen. In der Vorberatung wich die zuständige Kommission des Ständerats vom Bundesratsvorschlag ab. Sie reduzierte zwar die Dauer der Übergangsregelung für betroffene Frauen auf sechs Jahre, die Kosten für diese Massnahmen belaufen sich jedoch immer noch auf 440 Mio. Fr. pro Jahr. Zudem baute die Kommission im gleichen Schritt die Leistungen für Rentnerehepaare im Umfang von 650 Mio. Fr. pro Jahr aus – zeitlich unbefristet. Damit werden die Einsparungen durch die Angleichung des Frauenrentenalters mehrheitlich wieder aufgefressen, bevor das Gesetz überhaupt in Kraft tritt.

Kühlen Kopf bewahren

Die Vorschläge der Ständeratskommission lösten eine – gut orchestrierte – Welle der Empörung aus. Unter der Leitung des Schweizer Gewerkschaftsbundes wurden gleichentags massenhafte SMS- und WhatsApp-Nachrichten verschickt, die eine unpräzise «Verschlechterung der Frauenrenten» kritisierten – der Ständerat hatte ja nur die Form der Kompensationen angepasst – und zur Unterstützung einer Petition riefen. Über 300’000 Personen folgten per Mausklick diesem Aufruf.

Die Zahl ist beeindruckend. Sie zeigt, wie emotional die Debatte ist, sie zeigt aber auch, wie rasch im Zeitalter der sozialen Medien Organisationen ihre Mitglieder mobilisieren können. Zwei Wochen später startete die SVP eine ähnliche Aktion und sammelte ebenfalls innert Tagen 300’000 Mausklicke, diesmal zu Gunsten der «Beizenöffnungen» in der Pandemie.

Auch wenn solche Signale von der Politik wahrgenommen werden müssen, darf ihre Tragweite nicht täuschen. Ein Klick ist schnell getätigt. Bei diesem Impuls fehlen die ausführlichen und differenzierten Debatten, die sonst unsere Volksabstimmungen prägen.

Realpolitisch sieht der Widerstand gegen eine Angleichung des Frauenrentenalters anders aus. Vermutlich werden die meisten Männer nichts dagegen haben, weil sie kaum davon betroffen sind. Und viele Frauen werden – gerade im Rahmen des Gleichheitsdiskurses – eine Angleichung des Rentenalters gutheissen. Fakten unterstützen diese These: So sprachen sich 2018 gemäss einer repräsentativen Umfrage des Forschungsinstituts GfS 78% der Männer und 54% der Frauen, also eine deutliche Mehrheit, für eine solche Anpassung aus.

Fairness für Jung und Alt

Das soll nicht heissen, dass die Erhöhung des Frauenrentenalters «knallhart» und ohne jegliche Kompensationen erfolgen soll. Auch wenn wir schon lange darüber debattieren und dieser Schritt wohl niemanden mehr überraschen sollte, ist es eine Sache der Fairness, Frauen, die kurz vor der Pension stehen, eine Übergangslösung anzubieten. Ob dabei drei, sechs oder neun Jahrgänge, in welcher Form auch immer, unterstützt werden sollen, muss das Parlament aushandeln.

Es ist auch ein Gebot der Realpolitik, dass man diejenigen, die unmittelbar von der Reform betroffen sind, mit ins Boot holen muss. Auch deshalb, weil im konkreten Fall die Vorlage die geburtenreichen Jahrgänge der Babyboomer tangiert, die zahlreich an die Urne gehen werden.

Wie viele Zückerchen für wen sollen die AHV-Sanierung versüssen? (jcomp-de.freepik.com)

Das heisst aber nicht, dass im Konzert der Empörungen jede Partei ihre Klientel mit «Zückerli» beglückt, hier die Frauen, dort die Rentnerehepaare. Sonst stehen wir schliesslich vor einem Zuckerberg, der nur mit teuren Lohn- und Mehrwertsteuerprozenten zu finanzieren wäre.

Diese Beiträge müssen dann primär die jüngeren Generationen einen (Erwerbs-) Leben lang erbringen. Die Jungen leisten in dieser Pandemie schon viele Opfer im Namen der Solidarität mit älteren Risikogruppen. Es darf nicht sein, dass im Bereich der Altersvorsorge die Sanierung der AHV einzig und allein dank zusätzlichen Finanzierungen erfolgt, die auch hier vor allem durch die Jüngeren – ob Mann oder Frau – getragen werden.