Hochschulen funktionieren zunehmend nach einer Verwertungslogik: Erwünscht ist vermehrt eine praxisorientierte Ausbildung, also die Vermittlung von Wissen, das einen direkten volkswirtschaftlichen Nutzen hat. Diese Tendenz setzt die Sozial- und Geisteswissenschaften unter Druck, die in Bildungsdebatten gerne als abgehoben und wenig relevant kritisiert werden.

Wie viele Geisteswissenschafter braucht das Land? Da wir nicht davon ausgehen können, dass fehlende Spezialisten auch künftig einfach importiert werden, rückt diese Frage ins Zentrum. Die These, dass die Schweizer Hochschulen derzeit zu viele Historiker, Germanistinnen und Publizistikwissenschafter (und gleichzeitig zu wenig Ingenieure und Naturwissenschafterinnen) hervorbringen, scheint provokant und erregt sogleich den heftigen Widerspruch der Angesprochenen.

Die Zahlen zeigen aber, dass sich die Geisteswissenschaften tatsächlich breitgemacht haben. In den 1980er Jahren und noch 1990 – also vor den Auswirkungen der grossen Bildungsexpansion durch die Verdoppelung der Maturitätsquote – lag der Anteil der Geisteswissenschaften an den Studienfächern bei gut 22 Prozent der Abschlüsse. Im Jahr 2000 lag dieser Anteil bereits bei 33 Prozent, also die Hälfte höher. 2005 waren fast 35 Prozent erreicht, bevor sich die Quote bis 2015 auf knapp 30 Prozent zurückgebildet hat.

Dieser Rückgang liegt aber nicht daran, dass weniger junge Menschen Sprachwissenschaften, Geschichte oder Soziologie belegen. Er ist vielmehr dem Erfolg der beiden ETH geschuldet, die dank einer Internationalisierungsstrategie viel mehr ausländische Studierende an die ETHs lockten. Viele dieser teuer ausgebildeten Mint-Spezialisten bleiben allerdings nicht in der Schweiz, unter anderem, weil Staatsangehörige von ausserhalb des EU/Efta-Raums oft keine Arbeitsbewilligung erhalten.

Wie viele Geisteswissenschaften braucht die Schweiz? Max Frisch (l.) und Friedrich Dürrenmatt 1963 in der Kronenhalle. (Jack Metzger, ETH Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

Man könnte nun entgegnen, dass der Schweizer Arbeitsmarkt die zusätzlichen «Phil.-Einer» aufgenommen hat. Dabei wird auf die Arbeitslosigkeit verwiesen, die unter den Hochschulabsolventen tatsächlich am tiefsten liegt. Auch die Phil.-I-Abgänger fallen hier nicht weiter auf – ausser dass sie länger brauchen, um in eine stabile Beschäftigung zu finden.

Die Folgen der Ausdehnung der Humanwissenschaften sind anderweitig zu erkennen, nämlich bei der Bildungsrendite. Dieser zentrale Bildungsindikator, der die Erträge der Bildungsinvestition (höhere Löhne) mit ihren Kosten (entgangener Lohn während der Studienzeit, Bildungskosten der öffentlichen Hand) in Beziehung setzt, liegt bei den Geisteswissenschaften deutlich tiefer als bei anderen Wissenschaftszweigen. Das ist ein starkes Indiz dafür, dass die Nachfrage im Arbeitsmarkt mit der Phil.-I-Expansion nicht Schritt hielt.

Die Folge war ein (relatives) Zurückbleiben der Löhne und ein Schrumpfen der Bildungsrendite. Für ein strukturelles Ungleichgewicht auf dem privaten Arbeitsmarkt spricht auch, dass die Schweizer Firmen anteilig deutlich mehr Mint-Absolventen im Ausland anwerben, als von den Hochschulen ausgebildet werden. Dazu kommt, dass ein erheblicher Teil der Humanwissenschafter vom öffentlichen Sektor absorbiert wird. Die Studienwahl trägt so indirekt zum Wachsen des Staates bei.

Niemand zweifelt ernsthaft daran, dass eine offene und demokratische Gesellschaft auch Geisteswissenschafter braucht, die kritisch hinterfragen und uns immer wieder den Spiegel vorhalten. In Zeiten von Fake-News, alternativen Fakten und sich selbst verstärkenden Filterblasen in den sozialen Netzwerken liesse sich dieses Argument gewiss noch verstärken.

Doch die lapidare Frage bleibt: Wie viele Geisteswissenschafter braucht die Schweiz? Die ökonomische Evidenz zeigt, dass wohl zu viele ausgebildet werden. Wer mit Herzblut und Engagement Germanistik studiert, soll dies auch weiterhin tun können, denn eine direkte Lenkung der Studienwahl ist eines liberalen Staatswesens unwürdig. Doch die Bildungspolitik sollte die Weichen auf allen Stufen in eine Richtung stellen, die der Nachfrage des privaten Sektors vermehrt Rechnung trägt.

Dieser Beitrag ist in der NZZ vom 25. September 2017 erschienen.