Die tiefen Strompreise im Stromgrosshandel (vgl. Abbildung) veranlassen auch in der Schweiz grosse Stromverbraucher (> 100 MWh / Jahr) vermehrt vom Marktzugang Gebrauch zu machen. Sie wechseln ihren Anbieter oder handeln bessere Konditionen aus. Das wachsende Interesse am Marktzugang ist aber nicht nur auf die tiefen Preise im Grosshandel zurückzuführen. Daneben spielen auch die Dienstleistungen und die Minimierung finanzieller Risiken eine wichtige Rolle. Beide Aspekte sind vor allem für energieintensive Unternehmen bedeutend. Auch die kürzlich vom Regulator ElCom veröffentlichten Wechselraten lassen darauf schliessen, dass sich vor allem jene Unternehmen mit besonders hohem Anteil am Energieverbrauch aus der Grundversorgung verabschieden und ihren Strom im freien Markt beziehen.

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Preis- und Mengenrisiken

Natürlich haben sie auch im freien Markt die Möglichkeit eines Vertragsabschlusses mit einem Vollversorgungsmodell. Ein solches garantiert ihnen nicht nur einen umfassenden Service, sondern auch einen festen Preis. Doch gerade wegen des beim Vertragsabschluss fixierten Preises ist das Modell sowohl für den Versorger wie auch für den Grossverbraucher mit Risiken verbunden. Für den Grossverbraucher besteht die Gefahr, dass er den Strompreis zum falschen Zeitpunkt fixiert und nicht profitiert, wenn die Preise später sinken. Das kann gravierend sein, wenn etwa ein Preiszerfall mit einem Konjunktureinbruch oder einer stärkeren inländischen Währung zusammenhängt. In beiden Fällen müsste ein Industriebetrieb mit einem geringeren Absatz rechnen, während sein Strompreis anhaltend hoch bleiben würde. Für den Versorger besteht umgekehrt ein Mengenrisiko – er muss je nach Verbrauch seines Kunden kurzfristig zusätzlichen Strom bereitstellen. Mit wachsender Energieintensität steigt bei Verbrauchern die Relevanz des Risikomanagements – schliesslich bestimmen die Energiekosten wesentlich die Wettbewerbsfähigkeit. Als Alternativen zur Vollversorgung bieten sich verfeinerte Modelle an, etwa der Einkauf in Tranchen oder die strukturierte Beschaffung. Bei der Tranchenlösung beschafft der Versorger die Energie über den Versorgungszeitraum in Tranchen, um das Risiko eines fokussierten Einkaufs während Hochpreisphasen zu minimieren. Die strukturierte Beschaffung ergänzt diese Strategie mit kurzfristigen Produkten, etwa der Deckung eines Teilbedarfs am volatilen Spotmarkt.

Gerade für die kleineren und mittleren Versorger stellen die neuen Anforderungen ihrer grossen Kunden eine Herausforderung dar. Meist fehlen ihnen das Knowhow und die Grösse, um selber strukturierte Produkte aufzusetzen und im Handel an der Börse zu agieren. Sie können daher industrielle Verbraucher kaum mehr adäquat selber beliefern. Vielmehr sind sie auf Dritte angewiesen, die ihnen die nötigen Leistungen quasi als Vorprodukt anbieten. Im Grunde sind die Versorger in einer ähnlichen Lage wie die Grossverbraucher. Sie verfügen über begrenzte Fähigkeiten, um direkt am Markt selber zu agieren, zum Teil haben sie eine eigene Produktion, die mit der Beschaffung kombiniert werden muss. Ein bekanntes Beispiel sind etwa die Stadtwerke Winterthur, die bei ihrer Beschaffung neu durch das deutsche Unternehmen Trianel unterstützt werden.

Fehlende Risikofähigkeit, höherer Risikoappetit

Neben dem fehlenden Know how spielt aber auch die beschränkte Risikofähigkeit kleiner und mittlerer Versorger eine zentrale Rolle. Energielieferungen in der Grundversorgung sind praktisch ohne Risiko, denn alle relevanten Kosten können auf die Tarife der gebundenen Kunden überwälzt werden. Anders verhält es sich bei der Belieferung von (Gross-) Verbrauchern im freien Markt. Der Versorger trägt nun – je nach Art des Vertrages – einen Teil der Preis- und Mengenrisiken. Das Mengenrisiko ist besonders ausgeprägt, da Grosskunden zahlungsunfähig werden können. Im Voraus beschaffter Strom muss womöglich zu schlechteren Konditionen am Markt veräussert werden. Die höheren Marktrisiken  müssen daher beim Versorger mit entsprechendem Risikokapital abgesichert werden. Auch hier bestehen Grössenvorteile: Grosse Versorger kommen aufgrund von Pooling-Effekten mit relativ weniger Risikokapital aus. Damit besteht ein bedeutender Wettbewerbsnachteil für kleine und mittlere Versorger. Zwar können auch sie günstigen Strom im Grosshandel beschaffen. Doch dies alleine reicht nicht aus, um Kunden zu gewinnen oder zu halten. Denn bei den Preisen für ihre Dienstleistungen und vor allem bei der Verrechnung der zugrundeliegenden Risikokosten sind sie kaum konkurrenzfähig.

Besonders interessant war daher der Kommentar eines Teilnehmers an der St. Galler Stromtagung 2013 auf das Referat von Prof. Karl Frauendorfer zum Thema «Relevanz und Design von strategischen Risikolimiten». Der Tagungsteilnehmer bemerkte, dass öffentliche Versorger gerade wegen ihrer staatlichen Eigentümerschaft und der damit verbundenen faktischen Staatsgarantie mit weniger Risikokapital in den Markt expandieren könnten. Zu Recht riet der Referent von einer solchen Strategie ab. Doch die Frage illustriert ein grundsätzliches Problem in der staatlich dominierten Elektrizitätswirtschaft. Denn für das Management eines öffentlichen Unternehmens kann es tatsächlich rational sein, die staatliche Eigentümerschaft systematisch für eine expansivere Strategie zu nutzen. Schliesslich reduzieren die geringeren Kapitalkosten bzw. der tiefere Risikokapitalbedarf den oben dargestellten Wettbewerbsnachteil. Damit aber werden die Preis- und Mengenrisiken nicht weggezaubert, sondern einfach an die Finanzhaushalte der Städte oder Gemeinden weitergereicht. Doch genau deren Risikofähigkeit ist sehr beschränkt. In der Regel sind sie alleiniger oder mehrheitlicher Eigentümer der Versorgungsbetriebe. Damit verbunden ist ein relevantes Klumpenrisiko in der Bilanz. Gerade die öffentliche Hand und der Steuerzahler sollten daher ein Interesse an möglichst geringen unternehmerischen Risiken haben.