In der Bildungspolitik gilt es heute als selbstverständlich, dass auch Universitätsabschlüsse berufsqualifizierend sein sollen. Diese Idee ist eine Folge der Bologna-Reform, die darauf abzielt, Studiengänge zu straffen und zu beschleunigen, vor allem aber mehr auf den Arbeitsmarkt auszurichten. Hintergrund war (und ist) die skandalöse Beschäftigungskrise junger Menschen im Süden Europas. Da die Staaten unfähig oder nicht willens waren, den wahren Grund für die untragbare Jugendarbeitslosigkeit anzugehen, nämlich die Spaltung der Arbeitsmärkte durch falsche Regulierung sowie das Fehlen einer Berufsbildung, wurde den Universitäten der Schwarze Peter zugeschoben.
Sie sollen für bessere Beschäftigungschancen ihrer Abgänger sorgen, indem sie mehr praxisnahe Kompetenzen schaffen. Das hat ihnen die Generalkritik der Ökonomisierung der Bildung eingetragen. Obwohl ich dezidiert der Meinung bin, dass staatlich finanzierte Bildung auch ökonomischen Ansprüchen genügen muss, hat diese Kritik einen wahren Kern, zumindest wenn man darunter den Abriss des Elfenbeinturms zugunsten von tertiären Berufsschulen verstehen würde.
Berufliche Sozialisierung im ersten Job
Letztlich können Universitäten das Versprechen der Berufsqualifizierung nämlich nicht einlösen. Akademische Studiengänge sind ihrem Wesen nach keine Berufsausbildungen, Ausnahmen wie Medizin oder Architektur bestätigen die Regel. Universitäten sind keine Firmen, die sich in den rauen Gewässern der Märkte bewähren müssen. Wo lernt man Kundenorientierung, adressatengerechte Kommunikation, die Reduktion von Erkenntnissen auf Kernbotschaften, den Umgang mit komplizierten Interessenkonstellationen? Diese entscheidenden Kompetenzen kann man nicht im geschützten Raum einer Vorlesung oder eines Kolloquiums einüben, sondern nur im praktischen Arbeitsalltag. Die berufliche Sozialisierung erlangt man anhand der konkreten Erfahrungen im ersten Job.
Die Universitäten sollten daher nicht versuchen, auch ein bisschen Berufsbildung zu sein. Sie sollten sich auf das besinnen, was sie eigentlich sind, nämlich Stätten des breiten Wissens, der Forschung, der Innovation und der Auseinandersetzung mit Gesellschaft, Wirtschaft und Technik. Das Handwerk, das sie lehren und beherrschen, heisst wissenschaftliches Arbeiten. Dass sie dabei nach Exzellenz streben sollen, versteht sich von selbst. Gute Wissenschaft setzt Neugier, ständiges Hinterfragen vermeintlicher Gewissheiten, Kritik- und Abstraktionsfähigkeit voraus.
Auf die Stärken des Elfenbeinturms setzen
In einer Welt, die wie selten zuvor durch technologische Umwälzungen und Unvorhersehbarkeit geprägt wird, sind das entscheidende Kompetenzen für jedes Unternehmen. Auch die Vernetzung eines breiten Wissens sowie die Fähigkeit, sich situativ in neue Gebiete zu vertiefen, werden auf dem Arbeitsmarkt wichtiger. Eine offene Diskussionskultur, konstruktiver Widerspruch und der Mut, auch gegen den Mainstream die eigene Meinung zu vertreten, versetzen innovative Unternehmen mit Universitätsabsolventen in Vorteil. So gesehen, hat der oft kritisierte Elfenbeinturm durchaus seine Stärken, auf die man selbstbewusster setzen sollte.
Dieser Text ist im «Polit-Blog» des «Tages-Anzeiger» vom 11. Juli 2016 erschienen.