Die Vernehmlassung zum Lehrplan 21 blieb eine Debatte unter Experten, prägnant geäussert haben sich nur die direkt betroffenen Interessensverbände im Bildungsbereich, an allen voran der «Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz» (LCH). Er erachtet die vorgeschlagenen Mindeststandards von auszubildenden Kompetenzen als zu ambitiös, obwohl er sich vorher zweimal (2009 und 2011) hinter das Projekt gestellt hatte. Ansonsten warf das Thema keine hohen Wellen. Wer kennt schon die Standpunkte der politischen Parteien? Dies ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass Bildung gebetsmühlenartig als wichtigster Rohstoff bezeichnet wird. Oder wenn in Schulsachen sonst auch über zweit- und drittrangige Belange leidenschaftlich gestritten wird. Zu nennen wäre etwa die Frage nach Mundart oder Hochsprache im Kindergarten, über die vor einigen Jahren im Kanton Zürich abgestimmt wurde.
Reform abseits der Öffentlichkeit
Die öffentliche Abstinenz in Sachen Lehrplan 21 dürfte eine Folge davon sein, dass das Werk von Geburt an eine Expertenveranstaltung war, die im Windschatten der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz (D-EDK) ablief. Der schiere Umfang der erarbeiteten Dokumente erschwert die Übersicht und erst recht die Einschätzung. Das wirkt abschreckend für die an sich nötige Debatte unter «Nicht-Experten». Aus dem Umfeld der pädagogischen Hochschulen hört man, dass der Lehrplan 21 die grösste bildungspolitische Umwälzung seit Bestehen des Bundesstaates sei. Das mag zwar übertrieben sein, zeigt aber, wie problematisch es ist, dass eine solch weitreichende Reform ausserhalb der demokratischen Entscheidungsprozesse durchgezogen werden soll.
Dieses Manko erscheint umso gravierender, als die Bildungshoheit die wichtigste kantonale Kompetenz ist. Zwar betonen die Erziehungsdirektoren bei jeder Gelegenheit, dass dies so bleiben werde. Trotzdem ist zu befürchten, dass die kantonale Schulhoheit zwar nicht völlig ausgehebelt, faktisch aber doch arg beschnitten werden wird. So beobachtet man heute noch eine beträchtliche kantonale Varianz in der jährlichen Unterrichtszeit: Walliser Primarschülerinnen und -schüler erhalten rund die Hälfte mehr Unterrichtsstunden als Gleichaltrige im Kanton Basel Stadt (2008/09). Es fällt schwer zu glauben, dass die sehr detaillierten Kompetenzziele des Lehrplans 21 langfristig nicht zur Angleichung der Stundentafeln und damit zu einem zentralistischen Einheitsbrei führen werden. Auch das Argument, dass die Kantone dies via D-EDK aus freien Stücken tun, sticht nur bedingt, denn das Gremium der Bildungsdirektoren fasst seine Beschlüsse in der Regel unter Ausschluss direktdemokratischer Mitsprache.
Ein zentrales Anliegen hinter dem Lehrplan 21 ist die Förderung der räumlichen Mobilität über Kantonsgrenzen hinweg. Dies soll über sprachregional einheitliche und transparente Bildungsziele erreicht werden. Bezeichnenderweise konnte aber ausgerechnet das bedeutsamste Mobilitätshindernis nicht behoben werden. So bleibt Französisch in den Kantonen an der Sprachgrenze erste Fremdsprache, während die Ost- und die Zentralschweiz mit Englisch beginnen.
Dem Wettbewerb wird nicht getraut
Hinter der angestrebten Harmonisierung der Bildungsziele steht denn auch ein ganz anderer Beweggrund: Man traut dem Wettbewerb in der Bildung kaum etwas zu, viele erachten ihn gar als schädlich. Am offensichtlichsten ist dies bei der Liberalisierung der Schulwahl. Obwohl kaum ein Land den Eltern und Kindern so wenige Freiheiten bei der Schulwahl einräumt wie die Schweiz, scheitern dahingehende kantonale Vorstösse – wie kürzlich in den Kantonen St. Gallen, Solothurn oder Zürich – mit erdrückenden Mehrheiten. In dieses Bild passt der Entscheid der Zürcher Bildungsbehörden, niedergelassenen Eltern zu untersagen, ihre Kinder an anerkannte internationale Schulen zu schicken. Dieses Privileg soll ausschliesslich «Expats» vorbehalten bleiben.
Dabei bieten Wettbewerb und damit verbunden regionale Eigenarten auch in der Bildung Vorteile. Der klarste besteht darin, dass nicht alle den gleichen Fehler machen (müssen), der wertvollste aber ist die Chance, voneinander zu lernen. So könnte man den Bildungsraum Schweiz auch als kreatives «Labor» für Ideen und Reformen begreifen. Konkrete Anschauungsbeispiele dafür müssten der Öffentlichkeit allerdings noch vermehrt aufgezeigt werden. Neben Fehlertoleranz setzt ein fruchtbarer Bildungswettbewerb auch mehr Transparenz auf der Schulkarte voraus. Um letztere ist es in der Schweiz allerdings schlecht bestellt.
Transparenz in Schulfragen ist Mangelware
Mit Ausnahme einer älteren PISA-Auswertung für einige Kantone tappt man in Sachen Bildungsqualität und –output weitgehend im Dunkeln. Das hat mit einem tief sitzenden Misstrauen gegenüber der Qualitätsmessung und Einschätzung von Bildungsträgern und -institutionen zu tun. Auch die Ablehnung des vom «Forum Bildung» erstmals vergebenen Schweizer Schulpreises durch den LCH ist letztlich Ausdruck dieser Grundhaltung. Die Zielerreichung des Lehrplans 21 soll mittels Stichproben im Rahmen des Bildungsmonitorings regelmässig überprüft werden. Dieser Prozess dürfte aber den Experten vorbehalten bleiben. Eltern, Schüler und die Öffentlichkeit können kaum auf mehr Transparenz hoffen.
Leider gelang es nicht, die Schaffung eines «neuen Bildungsraums» in eine bildungspolitische Aufbruchsstimmung umzumünzen. So wurde die Gelegenheit verpasst, die Volksschulen zukunftsweisend zu erneuern. Glücklicherweise stellen die neuesten PISA-Resultate den Schweizer Schülern ein gutes Zeugnis aus, so dass der Lehrplan 21 vielleicht gar nicht so bedeutsam ist. Wichtig ist auf jeden Fall das Engagement von gut ausgebildeten und motivierten Lehrerinnen und Lehrern, denen man den nötigen Freiraum gewährt und die gebührende Wertschätzung entgegenbringt.