«Was diesseits der Pyrenäen Wahrheit, ist jenseits Irrtum» schrieb Blaise Pascal («Les Pensées»). Mit diesem zum geflügelten Wort gewordenen Satz bringt der grosse Freigeist und Philosoph des 17. Jahrhunderts die Subjektivität politischer Konzepte zum Ausdruck: Was für ein Volk oder für eine Region stimmt, stimmt für ein anderes Volk oder eine andere Region nicht zwangsläufig. Man kommt – trotz der Gefahr einer übermässigen Generalisierung – nicht umhin, Differenzen in den Politik-Prioritäten zwischen dem Arc lémanique (besonders Genf) und dem Rest der Schweiz festzuhalten. Diese Differenzen treten sogar innerhalb gleicher politischer Kreise in Erscheinung, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen.

Altersvorsorge 2020: Widersprüchliche Politik

Das 2017 in der Volksabstimmung gescheiterte Projekt «Altersvorsorge 2020» (Reform der AHV und der beruflichen Vorsorge) ist ein gutes Beispiel für einen Meinungskonflikt, dessen Frontlinie ungefähr die Sprachgrenze bildet und die mitten durch einzelne Parteien und Interessengruppen verläuft.

In der Deutschschweiz waren auf Arbeitgeberseite die Wirtschaftsverbände und Arbeitgeberorganisationen gegen das Projekt, weil es eine Rentenerhöhung in der AHV vorsah und damit zu steigenden Kosten geführt hätte. Ganz anders im Arc lémanique: Die wichtigsten Arbeitgeberorganisationen (namentlich FER und das Centre Patronal vaudois) unterstützten die Altersvorsorge 2020 und betonten, dass eine nicht perfekte Reform besser sei als ein Reformstau.

Auf dem Genfersee fährt die Schweiz einen anderen Kurs als im Rest der Schweiz. (Samuel Zeller, unsplash)

Auf gewerkschaftlicher Seite verteidigten die Deutschschweizer Arbeitnehmerorganisationen die Reform im Namen des Pragmatismus. Im Arc lémanique, besonders in Genf, bekämpften die Gewerkschaften und die «harte» Linke sie hingegen, weil sie die Fortschritte für die Arbeitnehmer als ungenügend bewerteten. Somit ergab sich bei dieser Abstimmung eine widersprüchliche, beinahe schizophrene Situation, weil sich Gruppen mit gleichartigen Interessen unterschiedlich positionierten.

Zur Veranschaulichung: Der Hauptverantwortliche einer grossen nationalen Gewerkschaft, die die Altersvorsorge 2020 unterstützte, hatte zwei völlig verschiedene Debatten zu führen. In der Deutschschweiz wurde er von den Linken unterstützt und hatte die Bürgerlichen und die Arbeitgeberorganisationen zum politischen Gegner; in der Romandie argumentierte er in die gleiche Richtung wie die Arbeitgeberorganisationen, hatte dafür aber die Gewerkschaften und die Genfer Linke zum Gegner. Dieses schwer durchschaubare Mosaik an widersprüchlichen Meinungen trug seinen Teil zur Ablehnung der Reform in der Volksabstimmung bei.

Zwei unterschiedliche Visionen für Sozialpartnerschaft und GAV

Auch beim Konzept der Sozialpartnerschaft existiert ein veritabler Unterschied zwischen dem Arc lémanique und der Deutschschweiz. Die einflussreichen Arbeitgeberorganisationen der Romandie (FER, Centre Patronal) sind die treibenden Kräfte einer Politik, welche die Ausdehnung von Gesamtarbeitsverträgen (GAV) erleichtern möchte. Zusammen mit den Gewerkschaften plädieren sie regelmässig für die Senkung der Anwendungsschwelle von GAV, um Unternehmen zu deren Anwendung zu zwingen. So betätigen sie sich als Initiatoren einer erzwungenen und nicht mehr freiwilligen Sozialpartnerschaft. Die gleichen Arbeitgeberorganisationen verteidigen auch entschieden die flankierenden Massnahmen (spezielle Klauseln zum Schutz der Löhne von Schweizer Angestellten), weil sie der Ansicht sind, diese seien der Preis für die Aufrechterhaltung der Personenfreizügigkeit.

Ganz anders positionieren sich die Deutschschweizer Arbeitgeber. Sie halten an der klassisch liberalen Auffassung fest, wonach es Unternehmen freistehen muss, einem GAV beizutreten oder nicht. Die anhaltende Ausdehnung der GAV wird manchmal als eine Art Ersatz für ein nach wie vor eher liberales Arbeitsrecht angeprangert. Zusammen mit der Entwicklung der flankierenden Massnahmen wird sie als eine Art Konservierungsmittel für die Macht der Gewerkschaften betrachtet, die zwar hinsichtlich der Mitgliederzahl nach wie vor schwach, aber durch diese Neureglementierungen gut finanziert sind.

Dieser Beitrag wurde erstmals in der Publikation «Einzigartige Dynamik des Arc lémanique» publiziert.