BaZ: Der Schweiz gehen die Arbeitskräfte aus. Können ältere Arbeitnehmer die Lage entschärfen?
Jérôme Cosandey: Das ist nicht die Universallösung. Doch die Beschäftigung von Senioren kann helfen, den Fachkräftemangel zu dämpfen. Wenn es etwa gelingt, dass jeder Angestellte bis zur Pensionierung zwei Monate länger arbeitet, dann steigt das Arbeitsangebot in der Schweiz einmalig um rund 8000 Stellen. Bei einem Jahr und 50 Prozent Teilzeit wären es sogar 25 000 zusätzliche Arbeitskräfte.
Dies wäre doch lediglich ein Tropfen auf den heissen Stein?
Der Vorteil ist, dass dieser Hebel sofort in Bewegung gesetzt werden kann. Die Leute sind bereits ausgebildet und arbeiten in den Betrieben. Man muss sie weder umschulen noch einarbeiten. Hinzu kommt, dass es Angestellte gibt, die nur schwer zu ersetzen sind. Denken sie an alte IT-Systeme, die nur noch von wenigen bedient werden können. Diese Mitarbeiter sind für die Betriebe interessant.
Ältere Mitarbeiter sind oftmals teurer als Junge. Müssen Ältere Lohneinbussen in Kauf nehmen, um in der Arbeitswelt bleiben zu können?
Es ist immer die Frage, was teuer heisst. Wollen sie lieber einen teuren, erfahrenen Anwalt für eine Scheidung engagieren, oder einen billigen, jungen Absolventen? Entscheidend ist, dass der Lohn die Leistung spiegelt. Allerdings steigt in vielen Betrieben und oft auch in der Verwaltung der Lohn mit dem Alter unabhängig von der Performance. Das ist ein Problem. Hier braucht es andere Vergütungssysteme.
Ältere Menschen sind häufiger langzeitarbeitslos. Ist dies nicht ein Widerspruch zur Klage über den Fachkräftemangel?
Bei Senioren muss man unterscheiden zwischen denen, die einen Job haben, und denen, die arbeitslos sind. Die Angestellten haben es einfacher, länger zu arbeiten, weil sie in den Betrieben gut integriert sind. Für die Arbeitslosen ist es hingegen viel schwieriger, wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen. In der Folge ist die Politik versucht, etwa mit einem strikteren Kündigungsschutz die älteren Angestellten zu schützen. Das verschärft aber das Problem der Arbeitslosen. Bei gleichen Qualifikationen und Lohnansprüchen sind sie aufgrund der strengeren Kündigungsbestimmungen weniger attraktiv als jüngere Bewerber.
Was kann die Politik sonst noch beisteuern?
Eine Möglichkeit ist die Flexibilisierung des Rentenalters. Dabei reduzieren Arbeitnehmer schon ein paar Jahre vor der Pensionierung ihr Pensum und arbeiten dafür länger als 65. So wird ein sanfter Übergang vom Erwerbsleben in die Pensionierung ermöglicht. Die Angestellten verdienen länger und das Know-how bleibt dem Betrieb erhalten. Davon profitieren alle.
Man könnte auch das Rentenalter erhöhen. Das hilft zudem der AHV.
Die Erhöhung des Rentenalters hilft zur Sanierung der AHV und kann das Angebot an Arbeitskräften einmalig erhöhen. Die Flexibilisierung des Rentenalters ist gut für den Arbeitsmarkt, bringt aber nicht mehr Geld in die Kasse der AHV, weil die Gesamtsumme der bezahlten Rente konstant bleibt.
In Deutschland oder Japan schrumpft die Bevölkerung. In der Schweiz wächst sie wegen der Zuwanderung. Ist dieses Modell nachhaltig?
Als Unternehmer können sie nicht nur auf die Zuwanderung hoffen, sie müssen alle Hebel in Bewegung setzen, um Fachkräfte zu erhalten. Sie müssen etwa gute Lehrstellen anbieten oder Teilzeitpensen für junge Eltern. Die Politik hat sich nach der Masseneinwanderungsinitiative vor allem auf Frauen und Ältere konzentriert. Sie sind sicher ein Teil der Lösung, aber nicht die ganze.
Zum Stichwort Fachkräftemangel: Bei der angesprochenen Knappheit müssten Firmen aus eigenem Interesse versuchen, ihre älteren Angestellten im Betrieb zu halten?
Genau. Eine kürzlich erschienene Untersuchung im Kanton Zürich hat gezeigt, dass im Gesundheitsbereich, in dem Fachkräfte Mangelware sind, mehr ältere Mitarbeiter als in anderen Branchen eingestellt werden. In der Finanzbranche hingegen setzten die Unternehmen eher auf jüngere, zum Teil ausländische Mitarbeiter.
Dieses Interview ist am 19. November 2016 in der «Basler Zeitung» erschienen (Printausgabe). Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.