Seit einigen Jahren importiert die Schweiz in grossem Stil Spezialisten und Wissensträger, die im Inland fehlen. Besser wäre, das eigene Potenzial zu nutzen.

Der Mangel an Fachkräften und Akademikern hat einen Grund: die «Wertschöpfungsnation Schweiz» ist viel grösser und global bedeutender als die demografische Basis des Landes. Die «neue Zuwanderung» wird durch zwei Merkmale geprägt: Erstens ist sie vornehmlich jobgetrieben, und zweitens besitzen 60 Prozent dieser Einwanderer einen Hochschulabschluss. Vieles spricht aber dagegen, dass das heutige Niveau der Zuwanderung (netto 50 000 bis 100 000 Personen) auf Dauer zu halten sein wird. Will die Schweiz ihre herausragende Stellung im weltweiten Standortwettbewerb halten, muss es somit oberstes Ziel sein, den eigenen Begabungspool bestmöglich zu nützen.

Über die bildungspolitischen Konsequenzen dieser Notwendigkeit scheiden sich die Geister. Die konkrete Debatte entzündet sich an der Maturitätsquote, denn trotz aller Durchlässigkeit ist der Zutritt in die Mittelschule noch immer eine zentrale Bildungsweiche. Obwohl es unverkennbar eine verstärkte Nachfrage nach gymnasialer Bildung gibt, blieb die Schweizer Maturitätsquote in den letzten Jahren stabil bei 20 Prozent. Dieser Durchschnitt überdeckt zudem die sich öffnende Geschlechterschere. Die Quote der jungen Männer liegt mit 15 Prozent tiefer als vor 15 Jahren.

Im Raum stehen deshalb Forderungen nach einer weiteren Bildungsoffensive. Für die hochspezialisierte Schweizer Wirtschaft mehren sich nämlich die Zeichen, dass die Bedeutung des Allgemein- und Orientierungswissens zunimmt. Dies gilt besonders für die anspruchsvollen Teile des Dienstleistungssektors, aber genauso für die wissensintensiven Bereiche des Werkplatzes. Auch das Jobwachstum der Zukunft wird sich aller Voraussicht nach in diesen Segmenten abspielen.

In weiten Teilen der Öffentlichkeit überwiegen hingegen die Vorbehalte gegenüber einer weiteren «Akadcmisicrung ». Der Grund liegt in der starken Verwurzelung und dem Erfolg der Berufsbildung. Die frühe Sozialisierung in der Arbeitswelt wirkt sich günstig auf die Integration der Jugendlichen aus. Gewerbliche Kreise fordern deshalb, den Drang an die Gymnasien mit Quoten einzudämmen.

Die Bildungspolitik ist damit mit einem Zielkonflikt konfrontiert: die Integrationsleistung der Berufslehre auf der einen und die zunehmende Nachfrage nach und Befähigung zu akademischer Bildung auf der anderen Seite. Die renommierten Bildungsökonomen Hanushek, Wössmann und Zhang zeigen in einer neuen Untersuchung, dass der einfachere Berufseinstieg durch die Lehre nicht gratis ist. Erwerbspersonen mit allgemeinen Bildungsgängen weisen in späteren Karrierephasen (ungefähr ab dem 50. Altersjahr) in der Regel bessere Beschäftigungschancen auf. So lautet der empirische Befund für 18 Länder, der gemäss den Autoren auch für die Schweiz zutrifft. Dies gilt umso mehr, je dynamischer sich der technologische und strukturelle Wandel vollzieht. Spezifische Profile, die genau auf die heutigen Jobs zugeschnitten sind, unterliegen einem höheren Risiko, denn Allgemeinbildung befähigt die Arbeitskräfte, sich flexibler an neue Technologien anzupassen oder das Berufsfeld zu wechseln.

Dieser Zielkonflikt sollte auf der individuellen Ebene gelöst werden und nicht über starre Kontingente. Der Wettbewerb zwischen beruflicher und akademischer Bildung sollte darum nicht kleingeredet, sondern gefördert werden. Selbstverständlich setzt dies eine Angleichung der Ressourcen voraus. Damit rückt die Finanzierung in den Vordergrund. Während der Staat den Gymnasiasten die Ausbildung bis zum Ende des Studiums weitgehend bezahlt, kommen die Lernenden der Berufsbildung zum grossen Teil selber für ihre Bildungskosten auf, denn sie erbringen während der Lehre schon produktive Leistungen. Anzusetzen wäre bei der Kostenbeteiligung der Studierenden an den Universitäten. Höhere Studiengebühren könnten zudem die einseitig zu den Phil.-I-Fächern neigende Studienwahl beeinflussen.

Die frei werdenden Mittel sollten zur Erweiterung der Allgemeinbildung in der Berufsbildung eingesetzt werden. Im Vordergrund steht der Grundsatz mindestens einer Fremdsprache in allen Lehrberufen, aber auch Mathematik und Informatik sollten vertieft werden. Dies könnte die Attraktivität der Berufsbildung gegenüber dem Gymnasium stärken. Daneben sollten sich auch die Betriebe vermehrt Gedanken machen, wie sie den Reiz der Berufslehre erhöhen können. Mehr Wettbewerb kann dazu beitragen, dass die Weiche nicht eindimensional entlang der Verteilung der kognitiv-intellektuellen Fähigkeiten gestellt wird. Vielmehr liessen sich so mehr schulisch Begabte für eine Karriere über die Berufsbildung begeistern. Und der Kreis um die Elite, die sich heute fürs Gymnasium qualifiziert, müsste nicht mehr so eng gezogen werden.

Dieser Artikel erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 18. Januar 2012.