Eigentlich ist das, was man in der europäischen Schuldenkrise halbwegs deutlich erkennen kann, schlimm genug. Für 2012 betragen die expliziten Staatsschulden in Griechenland rund 170% des Bruttoinlandprodukts (BIP), in Italien etwa 120%; in Irland und Belgien bewegen sie sich um die 100%. Das sind an sich schon gewaltige Beträge. Und selbst in den «Stützen» der EU, in Grossbritannien, Frankreich und Deutschland, bewegen sie sich zwischen 90% und 80%. Weil die Staatsquoten sich im grossen Ganzen irgendwo zwischen 40% und 50% bewegen, bedeutet das, dass selbst die Einäugigen unter den Blinden, wollten sie den Schuldenberg abtragen, etwa zwei Jahre lang keinerlei Staatsleistungen erbringen, den Beamten keine Löhne zahlen, die staatlichen Schulen schliessen und den öffentlichen Verkehr abstellen müssten usw. Anders ausgedrückt: Die Staaten müssten ihre Haushalte während 20 Jahren um 10% trimmen, um denselben Effekt zu erreichen. So sehr haben alle Staaten über ihre Verhältnisse gelebt.
Unter der Wasseroberfläche
Doch solche Schuldenberge sind wie Eisberge. Man sieht nur die Spitze, also einen kleinen Teil, wiegt sich in Sicherheit und unterschätzt die Gefahren. Bei den Staatsschulden der Gründungsstaaten der Euro-Zone (Euro 12) ist nur ein Viertel des Schuldenberges in Form expliziter, in der Vergangenheit gemachter Schulden sichtbar. Drei Viertel liegen unter der Wasseroberfläche. Diese noch unsichtbare, sogenannt implizite Staatsschuld besteht in all den gewaltigen Verpflichtungen für die Zukunft, die die Staaten eingehen, für die sie aber keine Rückstellungen machen. Zu denken ist an Renten- und Pensionszusagen oder an Pflege- und Gesundheitsleistungen, die die Staaten ihren Bürgerinnen und Bürgern versprechen und die oft erst in Jahrzehnten anfallen werden. Ausserdem spielt der gegenwärtige, um Zinsausgaben bereinigte Haushaltssaldo, der Primärsaldo, eine Rolle.
Rechnet man die von Prof. Bernd Raffelhüschen (Freiburg im Breisgau) berechneten impliziten Staatsschulden zu den expliziten, offiziell ausgewiesenen Schulden dazu, überkommt einen das nackte Grauen. Für die Euro-12-Staaten beträgt diese gesamte Schuldenlast, also die Nachhaltigkeitslücke, mehr als das Dreifache des BIP dieser Staaten – oder 75% des Welt-BIP des Jahres 2010. In Irland macht diese Lücke sogar mehr als das 13-Fache der jährlichen Wirtschaftsleistung aus, in Luxemburg mehr als das 11-Fache. Aber selbst «Musterknaben» wie Deutschland oder die Schweiz stehen plötzlich mit einer deutlich höheren Verschuldung da, oft dem Mehrfachen der expliziten Verschuldung.
Die deutsche «Stiftung Marktwirtschaft» hat vor einiger Zeit auf der Basis etwas anderer, aber durchaus vergleichbarer Zahlen und unter dem deutlichen Titel «Ehrbare Staaten? Tatsächliche Staatsverschuldung in Europa im Vergleich» (Moog & Raffelhüschen, 2011) ausgerechnet, was es brauchte, um diese Nachhaltigkeitslücken zu schliessen, also um wie viel die Staatsausgaben dauerhaft (nicht nur in einem Jahr) verringert oder die Staatseinnahmen dauerhaft erhöht werden müssten, um langfristig die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen zu sichern. Für die Euro-12-Staaten kam sie dabei im Durchschnitt auf 5,1% des BIP (nicht etwa des Staatshaushalts), für den Spitzenreiter Griechenland auf 17,6%, für Luxemburg auf 12,0%, für Frankreich auf 4,3%, für Österreich auf 4,8%, für Deutschland auf 4,0% und für Italien auf 2,4%. Die Unterschiede in den Rangordnungen zwischen Nachhaltigkeitslücke und Konsolidierungsbedarf haben in erster Linie mit der Bevölkerungsdynamik zu tun. Wenn die Bevölkerung schrumpft, wie das für Deutschland erwartet wird, verteilt sich die Schuldenlast auf weniger Schultern.
Italien schlägt Deutschland
Die Grafik vermittelt wichtige weitere Einsichten: Erstens sagt die normalerweise im Vordergrund von volkswirtschaftlichen Analysen stehende explizite Schuld wenig aus über die wirkliche Lage des Landes. Italien etwa kompensiert seine explizite Schuld durch Guthaben auf der impliziten Seite und weist daher in Summe keine Schuld aus. In Sachen finanzielle Nachhaltigkeit steht Italien sehr gut da. Auf der anderen Seite fallen Länder, die nur eine sehr geringe explizite Schuld aufweisen (gemessen am BIP), deutlich zurück, wenn man die implizite Schuld berücksichtigt, Luxemburg etwa auf die zweitletzte Stelle. Auch die Schweiz zählt zu jenen Ländern, die bei der expliziten Schuld besser dastehen als bei der impliziten.
Zweitens ist bei den dargestellten Ländern mit Ausnahme von Italien und Deutschland die implizite Schuld immer wesentlich grösser als die explizite. Oft ist die eine ein Mehrfaches der anderen. Drittens muss man unter Einbezug dieser «unsichtbaren» Schulden das Bild über die Schuldensituation einzelner Länder wohl etwas revidieren.
Im unteren Drittel der Grafik befinden sich zwar die «usual suspects», aber daneben gibt es doch Überraschungen wie das bereits erwähnte Luxemburg. Frankreich befindet sich in der schlechteren Hälfte, und auch Österreich brilliert nicht, während ausgerechnet das vielgeschmähte Italien an der Spitze steht, sowohl wegen des geringen erwarteten Anstiegs der Renten- und Pflegeausgaben als auch wegen des relativ hohen Primärüberschusses. Doch selbst Italien muss achtsam sein, denn ein Anstieg der Zinsen und ein schwaches Wachstum könnten rasch dazu führen, dass der Primärsaldo nicht ausreicht, den Schuldenberg auch nur stabil zu halten – von den anderen Staaten ganz zu schweigen.
Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 26. Januar 2013.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.