Um die Rechtsunsicherheit nach Annahme der Zweitwohnungsinitiative zu beseitigen, wird derzeit im Schnellverfahren eine Verordnung zu ihrer Umsetzung erarbeitet, die bis zum Inkrafttreten des Ausführungsgesetzes – spätestens 2014 – gelten soll. Der Verordnungsentwurf, der am 30. Mai vorgelegt wurde, enthält eine ausgesprochen heikle Regelung: Die Einschränkungen des neuen Verfassungsartikels sollen nur für Neubauten gelten, nicht aber für bestehende Bauten. Somit können sämtliche «altrechtlichen» Wohnbauten von Erst- in Zweitwohnungen umgewandelt werden – selbst wenn dies die Quote der Zweitwohnungen deutlich über die erlaubte 20-Prozent-Grenze anhebt.
Falsche Anreize
Diese sehr grosszügige Übergangslösung hat aus Sicht der Tourismusgemeinden gewichtige Vorzüge. Sie kommt einer umfassenden Eigentumsgarantie gleich und verhindert den Preisverfall für Erstwohnungen. Sie gewährt eine maximale Flexibilität bei der Nutzung der bestehenden Immobilien. Dies sichert Wertschöpfung in der Bauindustrie und macht komplizierte Ausnahmeregelungen überflüssig (etwa in Erbfällen oder für strukturschwache Gebiete). Indem der Bestand an Erst- und Zweitwohnungen nicht parzellenscharf auf alle Zeiten eingefroren wird, behalten die Berggemeinden weiterhin Gestaltungsspielräume bei der Ortsplanung. So weit – so gut.
Die umfassende Bestandesgarantie birgt aber auch massive Risiken. Die grösste und sehr reale Gefahr ist eine systematische Umschichtung: Da die Nachfrage nach Zweitwohnungen nicht länger durch Neubauten gedeckt werden kann, steigt der Wert für bestehende Immobilien, die in Zweitwohnungen umgewandelt werden dürfen. Gleichzeitig verbilligt sich Bauland, da es nur noch für Erstwohnungen nutzbar ist. Das resultierende Preisgefälle bietet Besitzern von Erstwohnungen einen starken Anreiz, ihre altrechtlichen Liegenschaften als Zweitwohnungen zu verkaufen und am Ortsrand günstig neue Eigenheime zu bauen. Für ein derartiges Verhalten bestünde ein starker Anreiz, und somit würden die alten Ortskerne auf breiter Front in Zweitwohnungs-Quartiere umgewandelt, während an den Siedlungsrändern neue Quartiere mit Erstwohnungen entstünden. Dies würde nicht nur zu einer sozialen Entmischung führen, sondern ausserhalb der Hauptsaison die Ortszentren zu Geisterstädten machen. Die Problematik der «kalten Betten» würde sich also räumlich genau dort konzentrieren, wo man sie am wenigsten wünscht: in den historischen Ortskernen der Berggemeinden.
Diese Dynamik erinnert an ein Problem, das in den USA in den 1980er Jahren als Doughnut-Effekt bezeichnet wurde: Die Mittelschicht floh vor sozialen Problemen aus den Innenstädten in die Vororte, und die Stadtzentren verfielen. Ähnlich wie beim Doughnut (zu Deutsch: Krapfen) entstand in der Mitte des Siedlungsgebietes ein Loch und darum herum ein mit Zucker gepuderter Rand. Träte die Verordnung zur Zweitwohnungsinitiative in der vorliegenden Form in Kraft, drohte den Schweizer Bergdörfern ihr eigener Doughnut-Effekt: Ihre Zentren würden von Zweitwohnungsbesitzern kolonialisiert und stünden über weite Teile des Jahres leer, während die Einheimischen an die Ränder der Orte gedrängt würden. Eine solche Dynamik, deren Ergebnis sich überspitzt als «Detroit in den Alpen» bezeichnen liesse, kann nicht im langfristigen Interesse des Berggebietes sein.
Eine breite Umwandlungs- und damit einhergehende Neubau-Welle würde auch den neuen Artikel zu den Zweitwohnungen in der Bundesverfassung ad absurdum führen: Es würde im Endeffekt genauso viel gebaut wie vorher, nur dass noch eine Entmischung und eine Verödung der Ortskerne hinzukäme. Eine solch problematische Anreizwirkung träfe theoretisch das gesamte Berggebiet, denn in rund 550 Gemeinden liegt der Zweitwohnungsanteil über der 20-Prozent-Grenze. Der Verordnungsentwurf trägt diesen Risiken zwar formell Rechnung, aber nur mit einer schwachen Formulierung: «Kantone und Gemeinden ergreifen zur Verhinderung von unerwünschten Entwicklungen oder Missbräuchen raumplanerische Massnahmen (Art. 2, Abs. 1).» In welcher Form Gemeinden und Kantone dies tun, wird nicht spezifiziert. Selbst im günstigsten Fall würde die Umsetzung auf Gemeindeebene ein bis zwei Jahre dauern. Vor allem aber wird eine derart vage Regelung nur in Kantonen und Gemeinden Wirkung entfalten, in denen es bereits vor Annahme der Zweitwohnungsinitiative den politischen Willen gab, sich dieser Problematik zu stellen.
Kantonale Unterschiede
In Graubünden (2010) und Bern (2011) traten kürzlich Richtplanergänzungen zum Zweitwohnungsbau in Kraft, die «missbräuchlichen» Umwandlungen weitgehend einen Riegel vorschieben. Im Tessin fehlt zwar eine kantonale Regelung, aber es gibt zumindest zahlreiche Gemeinden mit Zweitwohnungsanteilplänen, die als Korrektiv dienen können. In Bergregionen ohne derartige raumplanerische Leitplanken besteht jedoch die Gefahr, dass es in erheblichem Umfang zum beschriebenen «Doughnut-Effekt» kommt. Dies gilt insbesondere für das Wallis, wo die Gefahr durch massiv überdimensionierte Baulandreserven akzentuiert wird: Gut ein Drittel der gesamten Bauzonen ist dort noch nicht überbaut, weit mehr als nach Bundesrecht erlaubt.
Es scheint daher dringend geboten, Art. 2, Abs. 1 der Verordnung über die Zweitwohnungen deutlich griffiger zu formulieren, als dies im Entwurf vorgesehen ist – zumal in den Erläuterungen zum Verordnungsentwurf sogar mögliche Instrumente genannt werden (Erstwohnungsanteilpläne für Ortskerne; baurechtliche Einschränkungen für Umwandlungen). Hiermit bis zum Inkrafttreten des Ausführungsgesetzes zu warten, wäre fahrlässig. Zum einen werden bis dahin voraussichtlich noch zwei Jahre vergehen, zum anderen schafft die Verordnung auch für den Inhalt des Gesetzes ein politisches Präjudiz. Ein grosszügiger Schutz des Bestandes altrechtlicher Wohnungen bei der Umsetzung der Zweitwohnungsinitiative scheint sinnvoll und legitim. Eine Carte blanche für Umwandlungen ohne raumplanerisches Korrektiv hingegen würde zu Fehlentwicklungen führen – die im Endeffekt vor allem den Tourismusgemeinden selber schadeten. Im laufenden Konsultationsverfahren für die Zweitwohnungsverordnung sollten daher dringend die notwendigen Korrekturen vorgenommen werden.
Dieser Artikel erschien am 8. Juni 2012 in der «Neuen Zürcher Zeitung» und auf «NZZ-Online».