Die EU tut sich schwer mit der Suche nach dem richtigen finanz- und wirtschaftspolitischen Kurs, der sowohl die Staatshaushalte konsolidiert als auch Wachstum und Prosperität verspricht. An wohlfeilen Ratschlägen von allen Seiten fehlt es nicht. Am 30. Mai hat die EU-Kommission in einem über 1500 Seiten umfassenden Dokument die Resultate der diesjährigen verschärften Überprüfung der nationalen Haushalts- und Reformpläne der 27 EU Mitgliedstaaten veröffentlicht. Es enthält – neben Wünschen und Mahnungen – eine Reihe von Empfehlungen an die Regierungen, die am nächsten EU-Gipfel von Ende Juni verabschiedet werden sollen. Sie reichen von der Einhaltung der Auflagen in den Hilfsprogrammen für Griechenland, Irland und Portugal, vom zeitlichen Aufschub für den Defizitabbau in Spanien über die Aufforderung an Frankreich und die Niederlande, die 3% Defizitmarke bereits 2013 einzuhalten, die Kritik an der Lohnindexierung in Belgien bis zu Vorschlägen zur Beseitigung der strukturellen makroökonomischen Ungleichgewichte und zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit in zahlreichen Mitgliedstaaten.
Kakophonie der internationalen Organisationen
An Analysen, Empfehlungen und Berichten zur Überwindung der Krisenlage gibt es in der Tat keinen Mangel. Denn neben der EU-Kommission gibt es auf supranationaler Ebene noch den IWF, die OECD und die BIZ, die ebenfalls nicht mit Ratschlägen geizen. So werden die Geld-, Wirtschafts- und Finanzpolitik der Mitgliedländer auch im Rahmen der sog. Artikel 4-Konsultationen des IWF und der Länderexamen der OECD einer vertieften jährlichen Prüfung unterzogen. Hinzu kommen weitere Untersuchungen und Stellungnahmen von Notenbanken, privaten Stellen (Banken, Ratingagenturen) und Hochschulinstituten. Dass es dabei immer wieder zu grossen Meinungsunterschieden kommt, wie einige besonders illustrative Beispiele zeigen, ist wohl unvermeidlich.
Während der IWF der Meinung ist, die meisten EU-Länder hätten dieses Jahr genügend Fiskalmassnahmen auf den Weg gebracht und weitere Sparschritte würden das Wachstum gefährden, fordert die Europäische Zentralbank (EZB) in ihrem April-Monatsbericht die Regierungen zu einem noch ambitionierteren Sparkurs auf und warnt vor schuldenfinanzierten Wachstumsprogrammen. Sie wird dabei von der Bundesbank unterstützt, die vor nachlassenden Konsolidierungsanstrengungen dringend abrät.
Demgegenüber fordert die OECD in ihrem jüngsten Wirtschaftsausblick für die Euro-Zone nicht nur eine Abkehr von einer zu starken fiskalischen Konsolidierung in einzelnen Krisenländern, sondern auch die Einführung von Euro-Bonds. Letzteres wiederum stösst bei namhaften Ökonomen auf dezidierte Ablehnung, weil von gesamtschuldnerisch begebenen Anleihen keine Signale mehr über die Solidität der Haushaltspolitik einzelner Länder ausgehen würden. Schliesslich zeigt der bekannte US-Ökonom Tyler Cowen anhand von Zahlen von Eurostat auf seinem Blog, dass die Eurozone bis Mitte 2011 – abgesehen von den baltischen Ländern – überhaupt noch nicht mit ernsthaften Sparanstrengungen begonnen hat.
Im Zentrum sollte das Vertrauen stehen
Vor diesem Hintergrund überrascht es denn auch nicht, dass gegenwärtig vor den Augen der Öffentlichkeit ein Ringen um den richtigen Kurs in der Finanz- und Wirtschaftspolitik in Europa abläuft. Auf der einen Seite ist das Lager der Südländer, angeführt von Frankreich und unterstützt von einigen – vorwiegend – angelsächsischen Ökonomen, die das Abgleiten in eine Abwärtsspirale durch mehr Wachstum verhindern wollen. Auf der andern Seite stehen die stabilitätsorientierten Länder unter der Führung Deutschlands, die an der Konsolidierung der Staatshaushalte festhalten wollen, um das Vertrauen in den Fiskalpakt und die fiskalische Tragfähigkeit nicht schon wieder zu gefährden.
Vertrauen schaffen durch einen klaren wirtschaftspolitischen Kurs wird vor diesem Hintergrund zur zentralen Herausforderung der EU. Mehr als 20 EU-Gipfeltreffen seit Ausbruch der Staatsschuldenkrise ist dies bisher nicht gelungen, so dass sich der Eindruck verfestigt hat, Europas Politik hinke der Krise stets hinterher. Was liegt da für die europäischen Politiker näher, als den «Fiskalpakt» durch einen noch unbestimmten «Wachstumspakt» zu ergänzen.
Wachstum und Haushaltsdisziplin sind nicht einfach konkurrierende Ziele, wie man das auf Grund einer einfachen mechanistischen volkswirtschaftlichen Bilanzarithmetik meinen könnte. Weniger Export und privater Konsum kann nicht einfach durch mehr staatliche Ausgaben ausgeglichen werden. Konjunkturelle Stohfeuer sind nicht geeignet, verloren gegangenes Vertrauen zu ersetzen. Die meisten ökonomischen Modelle zur Berechnung der «fiskalischen Multiplikatoren» vernachlässigen jedoch die zentrale Rolle des Vertrauens – die sog. „animal spirits“ – für das Wachstum. Zu diesem Zweck braucht es die richtige Dosierung an Einsparungen zur Wiederherstellung der finanziellen Stabilität und an Reformen zur Stärkung der aussenwirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit. So liesse sich Vertrauen wieder zurück gewinnen.
Lesen Sie hierzu auch den weiterführenden Artikel «Wirtschaftspolitik ist Sache der Nationalstaaten».