Die World Trade Organization (WTO) feiert dieses Jahr ihren 20. Geburtstag, ohne dass dies grosse Wellen geworfen hätte. Das erklärt sich wohl durch die schwierige Gratwanderung zwischen Multilateralismus (Ausbau der Welthandelsordnung) und Regionalismus (regionale Freihandelsabkommen), auf der sich die WTO seit einigen Jahren befindet. Sie trat 1995 an die Stelle des bisherigen provisorischen GATT-Vertrages und wurde damit zu einer internationalen Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit. Neben dem bereits bestehenden GATT-Güterabkommen umfasst sie die im Rahmen der Uruguay-Runde neu hinzugekommenen Abkommen über den Dienstleistungshandel und den Schutz des geistigen Eigentums sowie das Streitschlichtungsverfahren. Damit konnten drei wichtige globale Verhandlungsziele erreicht werden: einfacherer Marktzugang, die Stärkung und Erweiterung der Spielregeln für den Welthandel und die Verbesserung der Funktionsfähigkeit der multilateralen Handelsordnung.
Wirtschaftliche Integration und politische Desintegration?
Das GATT bzw. die WTO waren und sind ein Treiber der Globalisierung, weil sie für einen Ordnungsrahmen stehen, der auf garantiertem Marktzutritt, individueller Vertragsfreiheit und privaten Eigentumsrechten basiert. Zusammen mit dem technischen Fortschritt hat dies nicht nur den Warenaustausch erleichtert, sondern auch die Transaktionskosten verringert. Im Zuge dieser Entwicklung ist die Bedeutung der Grösse eines Staates gesunken. Kleine Länder sind in einer Welt der Globalisierung wirtschaftlich kaum noch benachteiligt, weil sie die Vorteile weltweiter Güter- und Faktormärkte nutzen können. Mit der Möglichkeit, Produkte und Dienstleistungen weltweit abzusetzen, kommen auch Unternehmen aus kleinen Ländern in den Genuss von Effizienzvorteilen und «economies of scale». Diese haben sich überdies dem mit der Globalisierung verbundenen internationalen Standortwettbewerb um mobile Produktionsfaktoren vielfach besser angepasst als grosse Länder. Nicht umsonst finden sich in der IMD-Rangliste der wettbewerbfähigsten Länder für 2015 unter den ersten zehn Ländern immerhin sieben mit weniger als zwölf Millionen Einwohnern.
Für Norbert Berthold, einen bekannten deutschen Professor von der Universität Würzburg, hat die Globalisierung auch in vielen Regionen den Wunsch nach mehr Autonomie und nach einem eigenen Staat gestärkt, weshalb sich fast überall zentralistisch organisierte Staaten auf dem Rückzug befinden. Für ihn sind separatistische Strömungen wie in Schottland oder Katalonien nur die Spitze des Eisbergs. Die Globalisierung trägt zwar dazu bei, dass der Wohlstand der Nationen konvergiert, aber weltweit offenere Märkte fördern auch die Unterschiede in den Präferenzen und zwischen den Regionen. Vor diesem Hintergrund ist die EU eine Ausnahmeerscheinung, befinde sie sich doch noch immer «auf dem Trip der politischen Integration hin zum Zentralstaat» (Berthold).
Multilateralismus schützt kleine Länder eher als Supranationalismus
Die Welthandelsordnung, verstanden als die Summe verschiedener Abkommen, ist ein völkerrechtlicher Vertrag, aus dem sich Rechte und Pflichten für die Mitgliedstaaten ergeben. Die hauptsächliche Bedeutung der WTO liegt ohne Zweifel darin, dass die Mitgliedstaaten keine handelspolitischen Massnahmen ergreifen, die anderen Ländern wesentlich schaden. Die Wirkung der WTO geht aber insofern darüber hinaus, als sie auch die wirtschaftlichen Grundrechte auf nationaler Ebene stärkt. Der Verzicht auf eigene Handlungsspielräume durch die Selbstbindung in der WTO ist der zentrale Mechanismus zur Koordinierung der nationalen Handelspolitiken. Diese horizontale Art des Souveranitätstransfers steht im Kontrast zum vertikalen Souveranitätstransfer, wie er in der EU oder im EWR stattfindet. Deshalb schützt der Multilateralismus kleine Länder tendenziell besser als der Supranationalismus.
Wie schon eingangs erwähnt, befindet sich die WTO angesichts zahlreicher internationaler Krisen und Unsicherheiten in einem schwierigen Spannungsfeld. Zum einen scheint der politische Wille – vor allem bei den grossen Staaten – für eine weitere multilaterale Liberalisierung bzw. zum Abschluss der sich schon über zehn Jahre hinziehenden Doha-Handelsrunde zu fehlen. Zum andern besteht bei vielen Staaten eine Vorliebe für regionale Handelsabkommen, weil diese leichter und schneller zu realisieren sind. Es wäre nach Prof. Richard Senti, einem der besten Kenner der WTO, schon viel gewonnen, wenn es zwischen den WTO-Bestimmungen und den regionalen Freihandelsabkommen zu einer besseren Abstimmung käme. Unzweifelhaft ist jedoch, dass vor allem kleine Länder von der WTO profitieren und sich deshalb für deren Stärkung einsetzen müssen.