In der politischen Diskussion wird häufig behauptet, dass die Verteilung des Wohlstands in der Schweiz sehr ungleich sei und noch weiter auseinanderstrebe. Die sprichwörtliche Schere öffne sich immer weiter, weshalb der Staat mehr als bisher korrigierend eingreifen müsse. Forderungen nach zusätzlicher Umverteilung und Markteingriffen beherrschen die politische Agenda zurzeit wie kein anderes Thema. Aber von welcher Verteilung sprechen wir eigentlich? Die Diskussion ist oft unübersichtlich. Sie wird dadurch erschwert, dass die Verteilung von wirtschaftlichen Grössen auf ganz unterschiedlichen Ebenen betrachtet werden kann.

Vom individuellen Lohn zum verfügbaren Einkommen

Ausgangspunkt ist meist das Einkommen aus dem Arbeitsmarkt, am anderen Ende der Verteilungsskala steht üblicherweise das verfügbare Äquivalenzeinkommen. Dieses Mass soll die Verteilung der effektiven Kaufkraft in der Bevölkerung abbilden. Konzeptuell liegt zwischen diesen beiden Grössen ein weiter Weg: zum individuellen Erwerbslohn muss das Einkommen aus dem Vermögen hinzugezählt werden, das sich aus Zinsen, Gewinneinkommen (z.B. Dividenden) und Mieteinnahmen zusammensetzt. So gelangt man zum individuellen Primäreinkommen.

Zu berücksichtigen ist weiter, dass die Menschen in Haushalten zusammenleben und so von einer gemeinsamen Haushaltsführung profitieren. Dies wird über die sogenannte Äquivalenzskala berücksichtigt, die die Grössenvorteile im Haushalt misst. Dabei spielt es eine wichtige Rolle, wer innerhalb des Haushaltes wie viel arbeitet (Erwerbsquoten) und ob Kinder zu versorgen sind. Schliesslich greift der Staat in die individuellen Wohlstandspositionen ein, indem er mittels Steuern, Abgaben und finanziellen Transfers die Primäreinkommen der Haushalte umverteilt.

Der Staat kann die Einkommensverteilung nur beschränkt beeinflussen

Der Arbeitsmarkt bestimmt die Einkommensverteilung (Gini-Index der verfügbaren Einkommen und der Löhne von Vollzeitangestellten)

Man könnte also denken, dass die Verteilung der verfügbaren Einkommen in den Haushalten wenig mit der Streuung der individuellen Löhne zu tun hat. Diese Vermutung ist falsch. Eine Analyse im Querschnitt der OECD-Länder für die späten 2000er Jahre zeigt dies deutlich: hierfür wurden die Gini-Koeffizienten der Löhne von (unselbständig) Vollzeitangestellten mit den Gini-Koeffizienten der verfügbaren Äquivalenzeinkommen der erwerbsfähigen Bevölkerung (25- bis 65-Jährige) in Beziehung gesetzt (vgl. Abb.). Der hohe Korrelationskoeffizient von 0.73 weist auf einen engen Zusammenhang zwischen den beiden Verteilungsgrössen hin. Die Verteilung der Vollzeitlöhne entspricht in erster Näherung der Verteilung der Stundenlöhne.

Mit anderen Worten: Die Verteilung der individuellen Stundenlöhne spurt die Position eines Landes bezüglich der Einkommensgleichheit weitgehend vor.

Aber welche Faktoren sind für den Zusammenhang zwischen der Verteilung von Löhnen und verfügbaren Einkommen verantwortlich?

  • Am wichtigsten dürfte wohl die Tatsache sein, dass der Lohn aus der eigenen Arbeit für eine überwiegende Mehrheit der Menschen die mit Abstand wichtigste Einkommensquelle darstellt. In der Mittelschicht beträgt der Anteil der Löhne am Gesamteinkommen meist 80% bis 90%.
  • Dazu kommt, dass die Möglichkeiten der Umverteilung durch den Staat begrenzt sind. Sowohl Steuern als auch Transfers beeinträchtigen die Anreize zum eigenen Einkommenserwerb und wirken somit leistungshemmend. Der als Verteilungsmasse zur Verfügung stehende «Kuchen» wird also durch die Umverteilungspolitik selbst geschmälert.
  • Die übermässige Verschuldung vieler Länder schränkt den Spielraum zur Umverteilung weiter ein, zumal Investitionsausgaben angesichts der Wachstumsschwäche in der EU mehr denn je in Konkurrenz zu Sozialausgaben stehen.

Als Fazit kann festgehalten werden, dass das Resultat aus dem Arbeitsmarkt für eine ausgewogene Verteilung entscheidend ist. Die Schweiz ist das Musterbeispiel dafür, dass ein liberales Arbeitsrecht und die freie, dezentrale Lohnbildung nicht automatisch zu hoher Ungleichheit führen.

Im Gegenteil: die (noch) hohe Flexibilität des Schweizer Arbeitsmarktes hat entscheidenden Anteil daran, dass das Gros der Bevölkerung sein Auskommen selber bestreiten kann. Die Politik verkennt dies zusehends. Eingriffe in den Arbeitsmarkt – sei dies über Mindestlöhne, Vorschriften zur Lohnstruktur innerhalb der Unternehmen oder die Einführung einer Sozialplanpflicht – würden diesen Vorteil der Schweiz über kurz oder lang beschädigen und dadurch den Druck zu mehr fiskalischer Umverteilung nochmals verstärken. Es gilt, diesen Teufelskreis zu verhindern.