NZZ: Herr Salvi, noch 2014 lehnten sämtliche Zürcher Stadtkreise einen nationalen Mindestlohn ab. Jetzt haben sowohl Zürich wie Winterthur deutlich Ja gesagt zu kommunalen Sätzen. Ist aus wirtschaftlicher Sicht heute ein staatlicher Mindestlohn eher angebracht als damals?
Marco Salvi: Nein, im Gegenteil. Auf dem Arbeitsmarkt konnten wir gerade aus Arbeitnehmersicht eine sehr erfreuliche Entwicklung in allen Bereichen beobachten: Die Löhne sind gestiegen, am meisten bei den Niedrigqualifizierten. Arbeitskräfte sind Mangelware. Der Schweizer Markt hat gezeigt, dass es einen staatlichen Mindestlohn gar nicht braucht, damit es den Angestellten gut geht.
Die Befürworter von Mindestlöhnen argumentieren, dass die Tarife gerade den Schwächsten helfen können.
Das ist leider eine Fehleinschätzung. Nehmen wir an, Sie haben als Arbeitgeber die Wahl, einen Niedrigqualifizierten einzustellen und jemanden, der leicht besser ist, zum Beispiel etwas produktiver, oder der etwas besser Deutsch spricht. Wegen des Mindestlohnes müssen Sie beiden das gleiche Gehalt bezahlen. Wen nehmen Sie? Natürlich den etwas besser Qualifizierten. Der Mindestlohn führt also zu einer Verdrängung der Schwächeren.
Diese finden gar keine Stelle mehr?
Jedenfalls kaum in einem regulierten Bereich mit Mindestlöhnen. Wir sollten nicht vergessen, dass die Lohnhöhe nicht einfach von Gott oder der Gewerkschaft vorgegeben ist: Sie steht in einem direkten Verhältnis zur Produktivität.
Unbestritten ist, dass sehr tiefe Gehälter für die Betroffenen ein echtes Problem sein können. Wie sollte ihnen geholfen werden, wenn nicht mit höheren Löhnen?
Zuerst einmal sollten wir uns von einem Bild der Working Poor verabschieden, das eher in die Erzählungen von Charles Dickens passt als in unsere moderne Zeit. Nicht alle Menschen mit kleinen Löhnen leben in armen Haushalten. Viele arbeiten Teilzeit, oder es sind Studenten, die später sehr viel mehr verdienen werden. 18 Prozent der Angestellten mit Löhnen unter 20 Franken leben sogar in Haushalten in der höchsten Einkommensklasse. Sozialpolitisch ist es nicht sinnvoll, ihnen allen pauschal einen Mindestlohn zu gewähren.
Und jenen, die wirklich nicht viel haben und von einem tiefen Lohn leben müssen?
Bei ihnen sollte vor allem sichergestellt werden, dass ein grosser Teil ihres Lohnes tatsächlich in ihrer Tasche bleibt. Die Steuern und Abgaben sollten also möglichst tief sein. Unter Umständen sind auch Lohnsubventionen denkbar.
Selbst grosse Marktwirtschaften wie die USA, Japan und Deutschland haben einen staatlichen Mindestlohn eingeführt. Wieso soll die Schweiz abseitsstehen?
Weil wir ein anderes System kennen. In der Schweiz gibt es schon heute nicht nur einen Mindestlohn, sondern sogar Tausende. Diese sind aber nicht staatlich verordnet, sondern in den Gesamtarbeitsverträgen verankert, als breit abgestütztes und akzeptiertes Resultat von Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmerverbänden.
Für die Angestellten spielt es im Prinzip keine Rolle, ob ihr Mindestlohn nun im Gesetz oder im GAV steht. Hauptsache, die Höhe stimmt.
Sie sollten sich aber sehr wohl für den Unterschied interessieren. Bei den GAV-Ansätzen handelt es sich um branchenspezifische Löhne nach Qualifikationen. Das ist ein fein tariertes, flexibles und umfassendes System. Die Sozialpartnerschaft hat sich für beide Seiten bewährt, ein staatlicher Mindestsatz steht dazu quer in der Landschaft. Ausserdem ist unklar, was im Zweifel Vorrang hat, ein GAV oder ein staatlicher Mindestlohn.
Der Lohn ist nur eine Form der Entschädigung. Ist zu erwarten, dass Firmen nach der Einführung von Mindestlöhnen an anderen Orten sparen werden, etwa bei den Ferien oder der Pensionskasse?
Ja, oder bei der Weiterbildung, bei den Pausen oder den Absenzen. Die Betriebe können verlangen, dass in gleicher Zeit mehr geleistet wird und dass die Flexibilität der Angestellten steigt. Die untersten Löhne sind zwar höher, aber die Anforderungen sind es ebenfalls. Die Zitrone wird also stärker ausgepresst. Das Betriebsklima kann darunter leiden.
Ein Mindestlohn kann auch mit illegalen Mitteln umgangen werden.
Dieser Effekt ist nicht zu unterschätzen. In Genf, das einen etwa gleich hohen Mindestlohn wie Zürich schon kennt, ist Schwarzarbeit häufiger. Es ist zu erwarten, dass sie bei einem Mindestlohn auch in Zürich zunehmen wird, mit entsprechenden negativen Effekten auf die Angestellten, weil sie ohne Sozialabgaben nicht versichert sind.
Unternehmen sind ständig mit Veränderungen der Kosten konfrontiert. Wenn etwa die Rohmaterialien teurer werden, müssen sie auch Wege finden, um dennoch profitabel zu bleiben. Gilt das Gleiche nicht auch für höhere Löhne?
Doch, natürlich. Als Erstes werden die Unternehmen versuchen, die höheren Kosten auf die Kunden zu überwälzen. Wenn das nicht funktioniert, müssen sie ihr Angebot anpassen. Restaurants sind dafür ein Paradebeispiel.
Was geschieht dann?
Vielleicht sehen wir mehr Kebab-Stände als gutbürgerliche Restaurants mit aufwendiger Küche, weil das weniger personalintensiv ist. Im schlechtesten Fall nehmen die Angebotsvielfalt und die Qualität ab, während die Preise steigen.
Man könnte argumentieren, dass ein Mindestlohn den Arbeitgebern wenigstens Planungssicherheit bietet: Sie wissen, dass auch ihr Konkurrent nicht weniger bezahlen darf.
Diese Sichtweise gibt es tatsächlich. Es gibt gewisse Arbeitgebervertreter, die sich nicht sehr vehement gegen Mindestlöhne wehren, etwa auf dem Bau. Wir könnten dann allerdings auch von einem Lohnkartell sprechen. Die Kosten dafür tragen die Konsumenten, weil es weniger Wettbewerb gibt.
In Zürich und Winterthur geht es nun um die konkrete Umsetzung des Mindestlohns. Was ist dabei zu beachten?
Zu klären sein wird nicht zuletzt das Verhältnis zwischen GAV und dem Mindestlohn. In Branchen, in denen die Mindestlöhne nach GAV höher sind, könnten die Unternehmen darauf pochen, den tieferen staatlichen Satz anzuwenden. Der grösste Belastungstest aber folgt in der nächsten Rezession.
Wird Zürich mit dem Mindestlohn nun attraktiver für die Zuwanderung?
Nicht unbedingt. Der höhere Lohn ist ja nur eine Seite der Medaille. Die andere ist, dass die Unternehmen wegen der höheren Löhne ihr Stellenangebot tendenziell reduzieren werden. Wo es nicht mehr Stellen gibt, da gibt es auch keine stärkere Sogwirkung – erst recht nicht für Geringqualifizierte aus dem Ausland.
Dieses Interview wurde von Zeno Geisseler geführt und ist am 19. Juni 2023 in der NZZ erschienen.