Der wirtschaftliche Erfolg der Schweiz hat auch Schattenseiten – unter anderem die zunehmenden Schwierigkeiten, die grosse Nachfrage nach Hochqualifizierten zu befriedigen. Patrik Schellenbauer ist einer der Ko-Autoren des Buchs «Das Gymnasium im Land der Berufslehre», das am 27. Oktober erscheint. Philippe Zweifel hat ihn aus diesem Anlass interviewt.

Philippe Zweifel: Herr Schellenbauer, was raten Sie Jugendlichen, die heute vor der Entscheidung stehen: Gymnasium oder Lehre?

Patrik Schellenbauer: Ein genereller Ratschlag wäre Unsinn. Das hängt von der individuellen Begabung, aber genauso von der persönlichen Neigung ab. Wissensdurst, wissenschaftliche Neugier und auch Sitzleder sind Voraussetzung für das erfolgreiche Beschreiten des akademischen Weges. In der Schweiz können wir uns andererseits glücklich schätzen, dass für praktisch ausgerichtete Jugendliche auch Berufslehren attraktive Perspektiven eröffnen.

Die Diskussion um Gymnasium oder Lehre ist nicht neu. Warum flammt diese Debatte ausgerechnet jetzt wieder auf?

Das hat mit der demografischen Entwicklung zu tun. Da die Jugendjahrgänge vielerorts schrumpfen, fehlt zunehmend der Berufsnachwuchs. Dafür werden von manchen die Gymnasien verantwortlich gemacht. Allerdings hat die Maturaquote der jungen Männer in den letzten 15 Jahren nicht zugenommen. Der Mangel an Polymechanikern und Automatikern muss also andere Gründe haben.

Welche?

Die Anforderungen der hochstehenden industriellen Lehren haben zugenommen. Neben einem beachtlichen Bildungsrucksack an Mathe und Physik ist etwa auch immer mehr Sozialkompetenz gefragt.

Man hört immer wieder: Gymnasium und Lehre darf man nicht gegeneinander ausspielen. Wie sehen Sie das?

Als Ökonom glaube ich an die Vorteile des Wettbewerbs. Und die gegenwärtige Debatte zeigt, dass die beiden Bildungsrichtungen tatsächlich im Wettbewerb stehen, der jetzt noch demografisch zugespitzt wird. Eine Steuerung über fixe Quoten ist nicht effizient. Zu diskutieren wäre allerdings über die Länge der Spiesse, sprich die Finanzierung.

Was schlagen Sie vor?

Ich bin generell gegen jegliche Art von Quoten. Solche werden neuerdings sogar an den Universitäten gefordert, um den Phil-I-Boom zu bremsen. Stattdessen muss mehr über Anreize gesteuert werden. Auch weil die freie Studienwahl ein hohes Gut ist, das nicht ohne Not aufgegeben werden sollte.

Philipp Sarasins Artikel hat viele Leser verärgert, weil er die Schweiz «bildungsfeindlich» nennt. Verstehen Sie die Empörung?

Ich verstehe vor allem, dass die pauschale Etikettierung der Berufsbildung als Mittelmass auf Unmut stösst. Diese Sicht verkennt, dass viele Berufslehren auf hohem Niveau sind und vielseitige Ansprüche stellen, durchaus auch kognitive. Wenn diese Lehren noch mit der Berufsmatura kombiniert werden, entstehen Ausbildungen, die – obwohl sie anders sind – den Vergleich mit der Matura nicht zu scheuen brauchen.

Sarasin nennt die Eintrittshürden ins Gymnasium Klassensortierungsanlagen. Selektioniert das Schweizer Bidlungssystem zu früh?

Jedes Bildungssystem muss Selektionen vornehmen. Länder, in denen die Berufslehre eine wichtige Stellung hat, selektionieren in der Regel früher und strenger. Denn ein funktionsfähiger Lehrstellenmarkt braucht auch talentierte und motivierte Junge. Im Idealfall wird die Bildungsweiche aber nicht nur über formale Zugangshürden wie Prüfungen oder Vornoten gestellt, sondern es entscheiden sich auch potenzielle Gymnasiasten bewusst für eine Lehre. Daran müssen wir arbeiten. Die Forderung, noch früher mit der Berufswahlvorbereitung in den Sekundarschulen zu beginnen, um den Berufsnachwuchs zu sichern, halte ich hingegen nicht für zielführend. Gerade die Jungs sind mit 13 Jahren noch nicht in der Lage, ihre Neigungen zu erkennen. Die Gefahr von Fehlentscheiden steigt.

In seiner Replik argumentiert Rudolf Strahm unter anderem mit der tiefen Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz. Würde die Jugendarbeitslosigkeit mit mehr Gymnasiasten und Akademikern tatsächlich steigen?

Bei einer abrupten und starken Erhöhung der Maturaquote wäre das wohl so. Gleichzeitig gibt es in der Schweiz kein «Akademiker-Proletariat», im Gegenteil: trotz der massiven Zuwanderung von Hochschulabsolventen ist die Arbeitslosenquote der Akademiker in den letzten 10 Jahren gesunken und liegt heute unter der Quote der Lehrabsolventen. Obwohl die Studienwahl offensichtlich zu den Geistenwissenschaften hin verzerrt ist, kommen sogar Germanisten und Ethnologinnen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt irgendwie unter.

In vielen Berufen braucht es heute mehr theoretische Bildung als früher. Hat die Schweiz dieses Problem mit der Einführung von Berufsmatura und Fachhochschulen gelöst?

Die Einführung der Berufsmatura in den Neunziger Jahren war ein eminent wichtiger Schritt für die Berufsbildung, sowohl inhaltlich als auch prestigemässig. Ohne sie hätten wir heute viel grössere Probleme. Die aktuelle BMS-Quote von rund 12% ist aber noch ausbaufähig. Und viele Betriebe fühlen sich in der Zwickmühle, denn die Berufsmaturanden sind länger in der Schule und darum für den Lehrbetrieb (scheinbar) weniger rentabel. Wir müssen Wege finden, um dieses Dilemma zu entschärfen.

Viele internationale Firmen, die in die Schweiz kommen, anerkennen die Diplome aus unserer Berufsbildung nicht. Trotzdem sagen Sie der Lehre eine erfolgreiche Zukunft voraus. Ist das kein Widerspruch?

Tatsächlich kommt die Lehre von dieser Seite unter Druck, und es braucht grosse Anstrengungen, um die Vorzüge unserer Berufsbildungskultur bei internationalen Firmen bekannt zu machen. Das duale System wird erfolgreich bleiben, wenn es sich den veränderten Verhältnissen anpasst. Ich bin überzeugt, dass einige anforderungsreiche Lehren der Industrie und der Dienstleistungen in 20 Jahren auf Hochschulniveau stattfinden werden.

Die Schweiz importiert Akademiker im grossen Stil. Warum bilden wir die nicht selber aus?

Wir wurden sozusagen vom eigenen Erfolg überrumpelt. Die Schweiz ist als Innovations-, Leitungs- und Denkplatz enorm erfolgreich und funktioniert wie eine kleine «globale Stadt». Es fehlt aber das weite «Hinterland», das heisst der eigene Talentpool reicht nicht, um die grosse Nachfrage nach Hochqualifizierten zu befriedigen. Wir werden darum ein Einwanderungsland bleiben.

Braucht die Schweiz insgesamt mehr Akademiker oder braucht sie einfach die richtigen?

Die fehlenden Akademiker sind bloss die Spitze des Eisbergs, es fehlen genauso Lehrer, Pflegepersonal, Polizisten, Schreiner und Metzger. Letztendlich sind wir auch hier in einer Zwickmühle. Extrem zugespitzt müssen wir uns fragen: Importieren wir Spezialisten und Chefs oder gute Handwerker?

Ist das Reservoir an studierfähigen Menschen in diesem Land bei der jetzigen Maturandenquote ausgeschöpft?

Diese Frage wird überwiegend mit Ja beantwortet. Allerdings gibt es keine schlüssige Evidenz dafür. In den letzten 30 Jahren ist die Maturaquote von 10% auf 20% gestiegen, ich habe aber nicht den Eindruck, dass das Niveau der Matura generell gesunken ist, auch die Studiengänge sind keineswegs einfacher geworden. Klar ist aber auch, dass der Begabungspool nicht grenzenlos ist, auch wenn die Gesellschaft bildungsnäher geworden ist.

Nach Strahm sind Fachhochschulabgänger begehrter als Uni-Abgänger.

Das ist ein schwieriger Vergleich, denn Fachhochschulabgänger haben den Berufseinstieg über die Lehre meist schon hinter sich und bewegen sich darum gewandter im Arbeitsmarkt. Viele Universitätsstudiengänge sind hingegen keine eigentlichen Berufsausbildungen, die berufliche Bewährungsprobe steht Ihnen noch bevor.

Manövriert sich das Gymnasium aufs schöngeistige Abstellgleis?

In den Gymnasien ist tatsächlich eine gewisse Aversion gegen Technik und Naturwissenschaften festzustellen. Das hat auch mit der stärkeren Betonung der sprachlichen und gestalterischen Profile in der Maturitätsreform von 1995 zu tun, wodurch die Stellung der harten Fächer zurückgedrängt wurde. Persönlich nehme ich in Diskussionen mit Gymnasiasten oft auch eine Abneigung gegen jedes ökonomische Denken wahr. Für mich sind humanistisches Bildungsideal und Ökonomie keineswegs unvereinbar.

Mit welchen Mitteln wollen Sie eine Studienwahl erreichen, die besser auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet ist?

Man könnte die Studienwahlvorbereitung als explizites Fach in den Lehrplan der Mittelschulen aufnehmen. Ansätze gibt es ja vielerorts, beispielsweise indem Ehemalige über ihre Erfahrungen an der Uni berichten. Wir werden aber nicht darum herumkommen, die Kostenbeteiligung der Studierenden an den Universitäten zu überdenken. Erstens spüren die Studierenden nicht, welche Kosten sie der Gesellschaft auferlegen. Problematisch ist dies vor allem, wenn die Studiengänge einen hohen «Konsumanteil» enthalten. Zweitens zahlt der Lehrling seine Ausbildung zu einem grossen Teil selbst, während den Maturanden bis zum Studienabschluss fast alles bezahlt wird.

Dieses Interview wurde am 24. Oktober 2011 auf Tages-Anzeiger Online / Newsnet publiziert.
Mit freundlicher Genehmigung des Tages-Anzeigers.