Nach den Wahlen des Parlaments und des Bundesrates muss die Aufmerksamkeit wieder inhaltlichen Fragen gelten. Avenir Suisse hat deshalb führende Ökonomen in der Schweiz aufgefordert, von 15 Reformvorschlägen in der Wirtschaftspolitik die fünf dringlichsten Anliegen zu bezeichnen und zu bewerten. Das Ergebnis ist deutlich: Als wichtigste Massnahmen beurteilen die Befragten Reformen bei der Finanzierung der Sozialversicherungen.
Führende Ökonominnen und Ökonomen in der Schweiz beurteilen die Reform der Sozialversicherungen und des Steuersystems als höchst dringlich. Dies ist das Ergebnis einer Umfrage zu den wirtschaftspolitischen Prioritäten für die Legislatur 2011-2015, die Avenir Suisse durchgeführt hat. Am dringlichsten erscheint den Befragten die Einführung einer Schuldenbremse bei AHV, IV und EO, die beim Überschreiten von festgeschriebenen Schwellenwerten Massnahmen für den Schuldenabbau vorschreibt. An zweiter Stelle kommt die im Parlament seit Jahren hängige Reform der Mehrwertsteuer, dabei stehen – entgegen dem bisher vom Parlament geäusserten Willen – die Einführung eines Einheitssteuersatzes sowie die Abschaffung möglichst vieler Ausnahmen im Vordergrund. An dritter Stelle folgt die Forderung nach einer Entpolitisierung der Rentenparameter in der beruflichen Vorsorge, also die Anpassung der Mindestverzinsung und des Umwandlungssatzes nach vorgegebenen Formeln und entsprechend der Lebenserwartung und der Lage auf den Kapitalmärkten statt aufgrund von politischen Entscheiden des Bundesrates oder gar des Volkes.
An der Umfrage beteiligten sich 37 führende Ökonominnen und Ökonomen der Schweiz. Die Befragten konnten aus 15 Vorhaben und einem eigenen Vorschlag für wirtschaftspolitische Reformen die fünf dringlichsten auswählen und bewerten. Ein Reformvorschlag konnte dabei maximal 100 Punkte erzielen.
Die drei Postulate mit der höchsten Priorität standen bei mehr als der Hälfte der Antwortenden auf der Liste der fünf dringlichsten Vorhaben und bekamen deutlich mehr als 30 Punkte: Schuldenbremse in den Sozialversicherungen (19 Nennungen, 37 Punkte), Vereinfachung der Mehrwertsteuer (21 Nennungen, 36 Punkte), Entpolitisierung der Rentenparameter (20 Nennungen, 35 Punkte). Hohe Werte erzielten auch ein Vorschlag für die Unternehmenssteuerreform III, der die Senkung oder Abschaffung des Gewinnsteuersatzes auf Bundesebene verbunden mit einer Aufhebung der Sonderregimes in den Kantonen vorsieht (17 Nennungen, 29 Punkte), sowie ein Vorschlag für mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen, der die Aufhebung des Kontrahierungszwangs und des Territorialitätsprinzips im Krankenversicherungsgesetz fordert (17 Nennungen, 28 Punkte). Ein Gewicht von 25 Punkten gaben die Befragten ihren eigenen, thematisch breit gefächerten Vorschlägen. Über 15 Punkte bekamen ausserdem die Einführung eines umfassenden Systems des Mobility Pricing, die Klärung der Beziehung zur EU mittels eines Rahmenabkommens und die Besteuerung von Paaren unabhängig vom Zivilstand. Als weniger dringlich betrachteten die Befragten Reformen im Bereich der Bildung und der Bildungsfinanzierung, des Wirtschaftsrechtes sowie des Service public und der Landesflughäfen.
Das Gewicht, das die führenden Ökonominnen und Ökonomen der Schuldenbremse in den Sozialversicherungen, der Vereinfachung der Mehrwertsteuer und der Entpolitisierung der Rentenparameter geben, zeigt die Bedeutung der Finanz- und der Sozialpolitik für die wirtschaftliche Zukunft der Schweiz. Die guten Erfahrungen seit der Einführung der Schuldenbremse bei den Staatsausgaben 2003 und die steigenden Kosten in den Sozialversicherungen aufgrund des demographischen Wandels dürften das Votum der Befragten stark beeinflusst haben. Da die Ausgaben für die soziale Wohlfahrt und das Gesundheitswesen die anderen Staatsaufgaben zu verdrängen drohen und da die Euroländer unter wachsenden Schuldenbergen leiden, betrachten die Befragten Disziplin und Nachhaltigkeit in der Ausgabenpolitik als äusserst wichtig.
Dagegen überrascht das schlechte Abschneiden des Vorschlags für ein Rahmenabkommen zur Erneuerung der bilateralen Abkommen mit der EU. Zwar nannte ein Drittel der Befragten dieses Postulat bei den fünf wichtigsten, allerdings gaben ihm nur gerade drei Befragte die höchste oder zweithöchste Priorität. Hingegen forderten die Ökonominnen und Ökonomen mit eigenen Vorschlägen eine höhere Gewichtung von Freihandelsabkommen mit den BRIC-Staaten und den generellen Abbau von Wettbewerbshindernissen mit dem Ausland. Die Teilnehmenden wiesen auch darauf hin, dass keines der Postulate wirklich unwichtig ist und dass es möglich sein sollte, alle Vorschläge in einer Legislaturperiode zumindest in Angriff zu nehmen.
Avenir Suisse hat die drei bestplatzierten Reformvorschläge bereits früher als wichtig und dringlich erkannt. Die im November 2011 erschienene Studie «Soziale Sicherheit sichern», die die Professoren Lars Feld und Christoph Schaltegger für Avenir Suisse erarbeiteten, fordert eine Schuldenbremse in den Sozialversicherungen. Das Buch «Steuerpolitische Baustellen» erscheint demnächst, und eine Publikation zur BVG-Reform kommt noch 2012 heraus. Wie die befragten Ökonominnen und Ökonomen die Schwergewichte legen, bestätigt somit die Prioritäten in der Arbeit von Avenir Suisse.