Benjamin Hämmerle: Die Billettpreise der SBB haben vorgestern um gut 5 Prozent aufgeschlagen. Während die Bahnkunden sich über die jährlichen Preisaufschläge ärgern, fordern Experten wie Avenir Suisse noch weit höhere Preise, weil die Passagiere momentan nur rund die Hälfte der tatsächlichen Kosten selber bezahlen würden. Dabei ist Bahnfahren in der Schweiz heute schon viel teurer als im Ausland. Warum eigentlich?

Daniel Müller-Jentsch: Pro gefahrenen Kilometer mag das Bahnfahren in der Schweiz teuer sein, aber andererseits sind die Reisedistanzen auch deutlich kleiner als in Frankreich oder Deutschland. Zudem hat die Schweiz den wohl dichtesten, besten und zuverlässigsten ÖV in ganz Europa. Pro Einwohner investiert die Schweiz jährlich doppelt so viel in die Eisenbahninfrastruktur wie die Niederlande und sogar zehnmal so viel wie Deutschland. Das liegt zum Teil am gebirgigen Terrain aber vor allem daran, dass wir uns einen absoluten Premium-ÖV leisten.

Der Bund investiert sehr viel in neue Bahnlinien und die Erhöhung der Kapazitäten. Begründung: Die Nachfrage werde in den nächsten Jahren stark zunehmen. Jetzt will man die Billettpreise stark erhöhen, um die Zersiedelung zu stoppen. Ist das nicht ein Widerspruch? Fördert nicht der Ausbau der Infrastruktur erst recht die Zersiedelung?

Solange die Preise künstlich tief gehalten werden, gibt es eine Übernachfrage, die wiederum einen ständigen Ausbau der Infrastruktur erfordert. Die subventionierte Mobilität führt nicht nur zu einer teuren Investitionsspirale, sondern ist auch ein zentraler Treiber der Zersiedelung. Sinnvoller wäre es, die Nachfrage durch höhere Preise zu dämpfen, dann spart man nicht nur einen Teil der Subventionen für den laufenden Betrieb, sondern kann sich auch einen Teil der Investitionen in den Infrastrukturausbau sparen.

Wie stark sollen sich die Bahnfahrer an den Kosten beteiligen? Wenn die Billette künftig doppelt so viel kosten, haben die Leute weniger Geld für den Konsum, was volkswirtschaftlich nicht wünschenswert wäre.

Gegenwärtig zahlen die Bahnpassagiere nur rund 40 Prozent der tatsächlichen Kosten. Einen Kostendeckungsgrad von 50 bis 60 Prozent sollte die Politik in den kommenden Jahren mindestens anstreben. Im Gegenzug dazu sollten dann aber auch andere Steuern gesenkt werden, denn wir sparen ja Subventionen. Es geht also letztendlich um eine Umschichtung der Finanzierung.

Was ist mit dem Güterverkehr auf der Schiene? Sollten dort die Preise auch drastisch erhöht werden?

Die Situation mit dem Güterverkehr ist eine andere. Dort soll ja die Nachfrage nicht gesenkt, sondern erhöht werden. Transportunternehmen würden bei höheren Preisen auf die Strasse ausweichen. Das ist weder ökologisch noch verkehrstechnisch wünschenswert.

Sollten die SBB nicht ihre Betriebskosten reduzieren, anstatt die Fahrpreise zu erhöhen – zum Beispiel mit der Stilllegung von unrentablen Strecken?

Auf unrentablen Strecken die Bahn durch Busse oder Postautos zu ersetzen, kann man sicher in Erwägung ziehen. Ein grösseres Problem sehe ich jedoch in politisch motivierten Investitionsentscheidungen. Bei der Auswahl von Verkehrsprojekten spielen häufig regionale Partikularinteressen eine grössere Rolle als volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Überlegungen. So werden Milliardenbeträge verschwendet.

Decken Autofahrer die von ihnen verursachten Kosten besser als Bahnfahrer, wenn man externe Kosten wie Umweltverschmutzung und Lärm mit einbezieht?

Im Strassenverkehr tragen die Nutzer durch Mineralöl- und Fahrzeugsteuern, Vignette und verschiedene Abgaben durchaus ihre direkten Kosten. Zählt man die externen Kosten hinzu, liegt der Kostendeckungsgrad bei etwa 90 Prozent. Höhere Abgaben wären aber vor allem deshalb sinnvoll, weil eine enorme Investitionslawine im Strassenverkehr auf uns zukommt. Bis 2030 müssen schätzungsweise 45 Milliarden Franken allein in den Ausbau des Nationalstrassennetzes fliessen, weil der Strassenverkehr kontinuierlich zunimmt. Um die Kosten künftiger Investitionen auf den Nutzer umzulegen und einen Teil dieser Investitionen durch Nachfragedrosselung zu vermeiden, müssten auch die Abgaben im Strassenverkehr deutlich steigen.

Welches Preismodell empfehlen Sie für den Personenverkehr der SBB?

Der Schlüssel für eine moderne Verkehrspolitik ist eine Ausdifferenzierung der Billettpreise nach Zeiten und Strecken, um die Verkehrsspitzen zu glätten. Das Schienen- und Strassensystem ist nämlich nicht grundsätzlich überlastet, sondern vor allem in der Rushhour und an regionalen Flaschenhälsen. Durch ein «Peak-Pricing» würde man den Nutzern einen Anreiz geben, auf die Talzeiten auszuweichen. Bei Flugtickets oder Hotelpreisen ist es ja auch allgemein akzeptiert, dass man in der Rushhour oder der Hochsaison höhere Preise bezahlt und in den Talzeiten entsprechend weniger.

Dieses Interview erschien in der Online Ausgabe des Tages-Anzeigers vom 11. Dezember 2012.

Avenir Suisse hat das «Mobility Pricing» schon früher thematisiert: Lesen Sie hierzu Mobility Pricing ist die Lösung für unsere Verkehrsprobleme  oder das Kapitel aus der Publikation «Verkehrt – Plädoyer für eine nachhaltige Verkehrspolitik»  (2010).