Ein Jahr nach Beginn der Coronakrise muss sich die Gesundheitspolitik anpassen. Da die Zahl der immunen und geimpften Menschen täglich steigt, sind differenziertere Ansätze als flächendeckende Geschäftsschliessungen gesucht.
In diesem Zusammenhang gewinnt die Idee eines Impfpasses, bzw. einer Immunitätsbescheinigung, an Bedeutung. Während die Europäische Union am Mittwoch, dem 17. März 2021, über entsprechende Modalitäten entscheidet, steht die politische Debatte über die Einführung einer solchen Bescheinigung in der Schweiz noch am Anfang. Es heisst, dieses Instrument führe «Privilegien» ein, schaffe «Diskriminierung» oder vergrössere die Kluft zwischen den Generationen, wenn «geimpfte Rentner den jungen Leuten von den Terrassen zuwinken würden».
Falsch verstandene Solidarität
Fragen zu Gleichberechtigung und Solidarität sind wichtig, in diesem Kontext werden sie aber oft falsch angegangen. Inhaber einer Immunitätsbescheinigung würden nichts Neues, kein Privileg bekommen, sondern nur ihre Grundrechte zurückerhalten. Die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit ist in unserer Verfassung verankert. Ein Entzug dieser Rechte durch den Staat ist nur dort möglich, wo Gesetze dies ausdrücklich vorsehen. Während in der ersten Welle der Pandemie umfassende Einschränkungen nachvollziehbar waren, hat sich die Situation grundlegend geändert, seit ein grosser Teil der Bevölkerung geimpft oder durch Krankheit immunisiert wurde. Die Situation hat sich somit in ihr Gegenteil verkehrt: Lag es bisher am Einzelnen, die Relevanz der Aufhebung staatlicher Beschränkungen zu beweisen, ist es heute Sache des Staates, den Entzug von Grundrechten zu rechtfertigen.
Es ist auch nicht diskriminierend, wenn Inhaber von Immunitätsbescheinigungen ihre Angehörigen in Altersheim leichter besuchen können, ihre Quarantänemassnahmen gelockert werden oder sie an Sport- oder Kulturveranstaltungen teilnehmen können. Damit eine Diskriminierung vorliegt, müsste das Zertifikat einen Nachteil für diejenigen schaffen, die keine Bescheinigung haben. Doch zurzeit darf niemand in ein Restaurant gehen oder ein Konzert besuchen. Durch die Erleichterung der Massnahmen für Inhaber einer Immunitätsbescheinigung bestrafen wir somit nicht die Nicht-Immunisierten – ihre Situation bleibt dieselbe. Natürlich ist es frustrierend, dass nicht jeder, der geimpft werden möchte, sofort berücksichtigt werden kann. Aber es ergibt keinen Sinn, Immunisierten die Freiheit zu verweigern, weil nicht alle gleichzeitig von der Ansteckungsgefahr befreit werden können. Ebenso unbefriedigend wäre es, den Risikogruppen eine Impfung zu verweigern, solange nicht genügend Impfstoff für alle zur Verfügung stünde.
Im Gegenteil: Ein zentraler Gleichheitsgrundsatz besagt, dass der Staat Gleiches nicht ungleich behandeln darf. Anderseits kann er ungleiche Situationen nicht in gleicher Weise behandeln. Geimpfte oder immunisierte Personen sind objektiv anders, da sie aller Wahrscheinlichkeit nach keine Gefahr mehr für die öffentliche Gesundheit darstellen.
Kein Generationenkonflikt
Die Beibehaltung der unbefriedigenden Strategie, Restaurants, Theater und Stadien für alle gleichermassen geschlossen zu halten, würde die Lücke zwischen den Generationen ebenfalls nicht schliessen, auch wenn die Risikogruppen – oft ältere Menschen – früher geimpft werden und somit schneller Zugang zu diesen Einrichtungen hätten. Es ist genau andersherum: Die Mitarbeitenden in den von Zwangsschliessungen betroffenen Betrieben sind oft junge Menschen. Eine Wiederaufnahme für einen Teil der Bevölkerung zu akzeptieren, ermöglicht ihnen ein Einkommen und garantiert soziale Kontakte, die für ihre mentale Gesundheit wichtig sind.
Natürlich ist die Bescheinigung einer Immunität kein Allheilmittel. Es ist jedoch ein Instrument unter anderen, um allmählich zu einem normalen Leben zurückzukehren. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass unsere Politiker so schnell wie möglich den juristischen Rahmen zu diesem Thema festlegen. Der Ausstieg aus den Pandemiemassnahmen muss beginnen, bevor die ganze Bevölkerung geimpft ist. Nach einer suboptimalen Impfstoffversorgungspolitik und mangelhafter Voraussicht bei der Planung von Impfkampagnen können wir uns kein weiteres Staatsversagen im Kampf gegen die Pandemie leisten.
Das benachbarte Europa, Israel und andere asiatische Länder wie Singapur haben das verstanden. Ob wir es wollen oder nicht, der Impfpass-Zug rollt und nimmt täglich an Fahrt auf. Wir können entweder wie die lila Kuh einer bekannten Schweizer Schokolade zusehen, wie er vorbeifährt und über die katastrophalen sozialen und wirtschaftlichen Folgen von Lockdown-Massnahmen grübeln. Oder wir packen den Stier bei den Hörnern und führen ein digitales, mit den Systemen von anderen Ländern kompatibles Instrument ein. Dieses Instrument, in Kombination mit weiteren Massnahmen, würde unsere Gesellschaft in die Lage versetzen, zwar den Virus nicht auszurotten, dafür besser damit zu leben.
Dieser Beitrag ist am 15. März 2021 auf Französisch in «Le Temps» erschienen.