In Zusammenhang mit der Digitalisierung wird selten gegeizt mit Schlagworten wie «Disruptive Technologien» oder «Big Data». Avenir Suisse hat sich, zusammen mit der Stiftung Sanitas Krankenversicherung, an einem Expertenworkshop zum Ziel gesetzt, diese Worthülsen mit Leben zu füllen und nach den Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung im Allgemeinen und der personalisierten Datennutzung im Besonderen zu fragen.

Eröffnet wurde der Workshop mit einem Input-Referat von Stefan Mück, technischer Direktor für den deutschsprachigen Raum der Sparte «Cognitive Solutions» von IBM. Seine Ausführungen spannten sich um die drei Begriffe «Kultur», «Technologie» und «Disruption». Die Kultur im Umgang mit den neusten Technologien ist je nach Alter unterschiedlich, wobei jüngere Generationen die Geräte und deren Nutzung naturgemäss am schnellsten und stärksten verinnerlichen.

Dass technologische Anwendungen in Zukunft den Menschen vor allem dort unterstützen werden, wo die Informationsfülle gross und unstrukturiert ist – Stichwort «Big Data» – veranschaulichte Mück am Beispiel des IBM Projekts «Watson» (vgl. Video), das u.a. in der Onkologie zur Unterstützung von Ärzten eingesetzt wird. Der Mehrwert zeigt sich bisher darin, dass «Watson» in 30% der Fälle Behandlungen vorschlug, die von den Ärzten selbst gar nicht in Betracht gezogen worden waren. Möglich wurde dies durch die maschinelle Analyse Hunderter «Best Practice»-Beispiele, Millionen wissenschaftlicher Artikel und zahlreicher medizinischer Lehrbücher – und das alles in sehr kurzer Zeit.

Der disruptive Charakter der technologischen Entwicklung manifestiert sich für Mück auch in den neuen Geschäftsmodellen, zum Beispiel bei der Beherbergung, beim Transport oder in der Versicherungsbranche. Diese Evolution stelle Wirtschaft, Gesellschaft und Politik vor die geradezu grundlegende Frage: «In welche Richtung soll es konkret gehen?»

Neue Prämien- und Risikomodelle

Der zweite Teil des Workshops befasste sich mit den neuen Geschäftsmodellen. Im Zentrum stand die Frage nach den Chancen und Risiken personalisierter Daten – und den entsprechenden Aussichten für die Datenwirtschaft.

Das bereits heute datenintensive Versicherungsgeschäft lebt – einerlei ob Auto-, Unfall- oder Krankenversicherung – von der Zufälligkeit der versicherten Ereignisse. In einer fast deterministischen Welt, in der dank personalisierten Daten und klugen Algorithmen die Risiken genauer bestimmt werden können, würde das Versicherungsproblem faktisch zu einem Finanzierungsproblem. Dabei ginge es vorwiegend um die finanzielle Planung eines in Zukunft mit nahezu vollkommener Sicherheit eintretenden Ereignisses.

Realistischer ist allerdings, dass persönliche Daten nicht zu einer «Ausschaltung» des Zufalls führen werden, sondern zu einer besseren Erkennung und Differenzierung der Risiken. Konkret bedeutet dies: Wer raucht, greift tiefer in die Tasche; wer Ausgleichssport macht, bezahlt weniger; wer Risikosportarten betreibt, muss auch mehr finanzielle Verantwortung tragen. Das klingt durchaus sinnvoll, wenn man diese Beispiele vom ökonomischen Prinzip der Verursachergerechtigkeit her betrachtet. Dadurch werden auch gewisse Informationsprobleme (Stichworte: Moral Hazard, Adverse Selektion) gelindert, die immer wieder als Grund für das «Versagen» von Versicherungsmärkten und für deren besondere Regulierung angebracht werden.

Grundlegende Fragen stellen sich spätestens dann, wenn es um die Risiken geht, die ein Mensch nicht oder nur teilweise beeinflussen kann, zum Beispiel genetische Prädisposition, Alter oder gar Armut. Zu welchen Versicherungen haben solche Personengruppen künftig noch Zugang? Diese berechtigten Sorgen müssen allerdings stets damit balanciert werden, dass die bessere Risikoeinschätzung zu insgesamt tieferen Durchschnittsprämien führt. Auch Bonusmodelle von Versicherungen können unterschiedlich gesehen werden: Zum einen belohnen sie einzelne Formen eines risikoärmeren Verhaltens, gleichzeitig steuern sie indirekt ihre Kunden in Richtung von bestimmten gesellschaftlichen (Gesundheits-) Normen – ist das wirklich eine Aufgabe von Versicherungen?

Aufgaben für den Staat – und die Konsumenten

Während sich die technologische Entwicklung in der Datenwirtschaft vor allem ausserhalb staatlicher Sphären abspielt, ist der Einfluss des Staates in diesem Bereich dennoch gross. Die Workshop-Teilnehmer orteten verschiedene staatliche Handlungsfelder. Damit die Konsumenten von den Potenzialen der Datenwirtschaft zusätzlich profitieren, müsste der Datenschutz an die neuen Realitäten angepasst werden. Das aktuelle Paradigma sei obsolet, so die Meinung einer Mehrheit der anwesenden Experten. Der Konsument sollte Eigentümer seiner Daten sein, sie an allfällige Interessenten verkaufen und damit davon profitieren können. Im Versicherungsbereich wäre beispielsweise der Preis dafür eine tiefere Prämie.

Zudem hapert es in vielen Bereichen der Datenwirtschaft immer noch an den technischen Rahmenbedingungen, die eine effektive Beteiligung der Konsumenten bzw. Datenproduzenten an der Wertschöpfung der Datenwirtschaft erlauben würden. Es ist schwierig zu verfolgen, wie der Datenrohstoff verarbeitet wird. Der (Markt-) Wert der Daten einer Einzelperson ist oft bescheiden; wertvoll ist ihre Verknüpfung. Der Durchbruch dieser «Empowerment-Strategie» wird jedoch nur dann erreicht, wenn die Konsumenten selbst ihre Verantwortung wahrnehmen.