Die Schweizer Gemeinden stehen heute finanziell besser da als vor zehn oder zwanzig Jahren: Es wird munter investiert, und die Mehrheit der Gemeinden kann diese Investitionen problemlos aus eigenen Mitteln (also ohne die Aufnahme von Fremdkapital) finanzieren. Deshalb weisen die Verschuldungsquoten auch auf der kommunalen Ebene einen sinkenden Trend auf. Sogar die stark verschuldeten Gemeinden der Kantone Jura und Neuenburg befinden sich in einer für EU-Verhältnisse (dieser nicht ganz angemessene Vergleich sei hier erlaubt) geradezu beneidenswerten Lage. Ihr an sich extrem hoher Bruttoverschuldungsanteil von 180% des eigenen Finanzertrags entspräche bei einer angenommenen Staatsquote von 40% umgerechnet einer Schuldenquote von ca. 70% eines (virtuellen) BIP – viele Staaten wären froh um einen solchen Wert.
Auch passiert es deutlich seltener als vor gut einem Jahrzehnt, dass die Gemeinden Aufgaben aufgrund zu hoher Arbeitsbelastung oder mangelnder Fachkompetenz nicht in angemessener Weise bewältigen können.
Wozu also die ganze Fusionitis, die schon mindestens die Hälfte der Kantone erfasst hat? Ganz einfach: Diese Fakten erzählen nicht die ganze Wahrheit.
- Viele Gemeinden haben Schwierigkeiten, Kandidaten und Kandidatinnen für die Gemeindeexekutive und die zahlreichen weiteren politischen Ämter zu finden, denn der Schwerpunkt kommunaler Politik verschiebt sich zusehends von politisch kaum umstrittenen Aufgaben (Elektrizität, (Ab-)wasser, Kehrichtentsorgung, Feuerwehr, Schulen) auf kontroversere Fragen im Bereich der Bau-, Verkehrs-, Raumplanungs-, Jugend-, Ausländer- und Sozialpolitik, bei deren Behandlung sich «Ertrag» in Form von Reputation und Macht sowie «Aufwand» in Form von Arbeit und öffentlicher Exponiertheit nicht mehr im gleichen Mass die Waage halten wie früher.
- Die tatsächliche Gemeindeautonomie ist deutlich kleiner, als es ein oberflächlicher Blick auf gewisse Indikatoren (z.B. die Ausgabenverhältnisse zwischen Gemeinden und Kantonen) suggeriert. In vielen wichtigen Gebieten liegt die Regelungskompetenz inzwischen weitgehend beim Kanton, die Gemeinden sind oft eher in der Rolle eines Vollzugsorgans. Nur flächendeckend starke, leistungsfähige Gemeinden können den Trend zu immer mächtigeren Kantonen stoppen.
- Ein zunehmender Anteil der kommunalen Kernaufgaben wird in Interkommunale Zusammenarbeit (IKZ) ausgelagert. De facto wird dadurch die Autonomie der teilnehmenden Gemeinden weiter eingeschränkt. Meist führt die IKZ zu einem höheren Verlust an Bürgernähe im betroffenen Aufgabenbereich als eine Gemeindefusion, denn bei praktisch jeder Art von Zusammenarbeit werden die direktdemokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten der Stimmberechtigten weniger gewahrt, als wenn Gemeinden fusionieren und dann die Aufgaben von der neuen, grösseren Gemeinde bewältigt werden.
Die derzeit gute finanzielle Lage der Gemeinden muss kein Zeichen für zeitgemässe Gemeindestrukturen sein. Die Finanzlage der öffentlichen Hand hat sich seit den 1990er Jahren, die von der Immobilienkrise und der darauf folgenden Wachstumsschwäche gezeichnet waren, generell verbessert. Einige Kantone gaben einen Teil der Ausschüttungen aus dem Nationalbankgoldverkauf von 2005 zwecks Schuldentilgung an die Gemeinden weiter, in vielen Kantonen wurden die Finanzausgleichszahlungen an die Gemeinden im Zuge der Modernisierung ihrer Systeme ausgebaut und nicht zuletzt profitieren die Gemeinden von der Zentralisierung von Aufgaben mit hoher Kostendynamik. So sind im Kanton Schwyz seit der Aufgabenentflechtung im Jahr 2001 die Ausgaben der Gemeinden und Bezirke von 600 Mio. Fr. auf 700 Mio. Fr. gestiegen, jene des Kantons hingegen von 600 Mio. Fr. auf 1100 Mio. Fr.
Von einer Wirtschaftswachstumsdynamik wie in den 2000er Jahren kann in naher Zukunft angesichts der sehr unsicheren Entwicklung des für die Schweiz wichtigen EU-Raums jedoch kaum ausgegangen werden, und die Ausschüttung des Nationalbankgolds war eine einmalige Sache. Die finanzielle Situation und damit generell die Leistungsfähigkeit vieler Gemeinden kann sich deshalb, so schnell sie sich verbessert hat, auch wieder verschlechtern. Dies wird umso eher geschehen, je stärker sie an alten Strukturen und einem überholten Autonomieverständnis festhalten.
Mehr zu diesem Thema erfahren Sie in der Avenir-Suisse-Studie «Gemeindeautonomie zwischen Illusion und Realität».