Vor kurzem liess die neue Armutsstatistik des BFS aufhorchen: Während fast 9% der Schweizer Bevölkerung offiziell als arm gelten, konnten sich 2019 sogar 20,7% keine unerwarteten Ausgaben von 2500 Fr. leisten. Die öffentliche Reaktion auf diese Zahlen war von Empörung geprägt: Wie kann es sein, dass in der reichen Schweiz eine 2500-Franken-Rechnung genügt, um einen Fünftel der Bevölkerung aus dem finanziellen Gleichgewicht zu reissen?

Einkommen ist nicht der einzige Indikator

Das Fazit vorweg: Armut ist ein komplexes, vielseitiges Phänomen, das sich schwer mit nur einer (eindrucksvollen) Zahl aufzeigen lässt. So liegt bei gut 17% der über 65-Jährigen das Einkommen unter der Armutsgrenze, die bei rund 2300 Fr. für einen Einzelhaushalt liegt und bei kinderlosen Paaren im Schnitt auf über 3000 Fr. wächst. Dennoch sind lediglich 3,1% der Rentnerhaushalte mit ihrer Finanzsituation unzufrieden. Grund für diese Diskrepanz könnte die Messung der Einkommen sein. Sie vernachlässigt die häufig vorteilhafte Vermögenslage der Rentnerhaushalte und erfasst die Eigenmiete von Wohneigentum nur mangelhaft. Um Unstimmigkeiten wie diese zu beseitigen und weitere «empfindliche Lücken in der Schweizerischen Sozialstatistik zu schliessen», wurde 2004 die Erhebung über die Einkommen und Lebensbedingungen (SILC) eingeführt. Damit möchte man ermitteln, ob Personen aus finanziellen Gründen auf den Besitz von wesentlichen Gebrauchsgütern verzichten müssen.

Materielle Entbehrungen sind selten – mit einer Ausnahme

Zuerst die gute Nachricht: Materielle Entbehrungen sind in der Schweiz seltener als die einkommensbasierte Armut. Nur 1,9% der Bevölkerung wies 2019 Mängel in vier von neun (international festgelegten) Merkmalen auf, 4,9% mussten in drei Bereichen Verzicht üben. Rund 91% der Schweizer Bevölkerung können sich Ferien leisten, über 95% ein Auto für private Zwecke nutzen, und über 99% haben ein Telefon oder einen Fernseher in ihrem Haushalt. So betrachtet gehört die Schweiz zu den wohlhabendsten Ländern, wie auch der Vergleich mit den Nachbarländern zeigt (vgl. Abbildung).

Armutsrisiko durch unerwartete Ausgaben Dass jede fünfte Person in der Schweiz eine unerwartete Rechnung von 2500 Fr. innerhalb eines Monats ohne fremde Hilfe nicht begleichen kann, ist dennoch erstaunlich. Doch auch hier hilft es, zuerst die Unterschiede in den Altersklassen zu betrachten. Im Gegensatz zur Prägung der Armutsquote durch die älteren Bevölkerungsgruppen sind es nämlich eher die Jungen, welche die unerwarteten Ausgaben nicht verkraften können: Bei den 18- bis 24-Jährigen sind 26,4% betroffen, aber nur 11,9% der Rentnerhaushalte.

Wiederum ist das Kleingedruckte von Bedeutung: Bei der Frage zu den unerwarteten Ausgaben wird eine etwaige Unterstützung durch die Familie nicht miteinbezogen. Bei der Ferien- und Autofinanzierung – sowie bei der Bestimmung der Einkommensarmut – werden private Transfers hingegen berücksichtigt. Gerade Studentinnen und Studenten weisen oft keine oder nur geringe Erwerbspensen und Ersparnisse auf und werden von ihrer Familie finanziell unterstützt.

Zur Komplexität der Armutsmessung trägt schliesslich auch das zeitliche Element bei. Insbesondere Einkommensarmut ist oft nur von kurzer Dauer. So sind durchschnittlich 2,5% der Bevölkerung in zwei aufeinander folgenden Jahren von Einkommensarmut betroffen, nur noch 1,6% während drei Jahren und lediglich 0,7% für einen noch längeren Zeitraum.