In den letzten Monaten haben Reformen der Altersvorsorge die politische Agenda in Bundesbern geprägt. Die Vorlage zur Stabilisierung der ersten Säule (AHV 21), die im Dezember 2021 unter Dach und Fach gebracht wurde, wird im September 2022 einem Referendum unterzogen. Parallel dazu behandelt das Parlament derzeit die Reform der zweiten Säule (BVG 21). In beiden Vorlagen konzentrierten sich die Diskussionen hauptsächlich auf die finanzielle Nachhaltigkeit dieser Sozialwerke. Ein wesentlicher Aspekt wurde in der Debatte jedoch fast völlig ausgeklammert: die mangelnde Flexibilität des Vorsorgesystems.

Wichtige gesellschaftliche Veränderungen

Die Idee der Ehe «bis dass der Tod uns scheidet» ist für jedes zweite Paar heute überholt (Scheidungen), und das traditionelle Familienmodell ist nicht mehr die Norm: Patchwork-Familien mit mehreren Kindern aus verschiedenen Ehen oder alleinerziehende Eltern sind immer häufiger anzutreffen. Die traditionellen Rollenbilder innerhalb einer Familie verschwinden allmählich zugunsten einer ausgewogeneren Aufgabenverteilung.

In der Arbeitswelt ist die Teilzeitarbeit auf dem Vormarsch. Während 1991 fast 50% der Frauen und nur 8% der Männer Teilzeit arbeiteten, sind es dreissig Jahre später fast 60% der Frauen und 18% der Männer mit einem reduzierten Beschäftigungspensum. Dies entspricht einem durchschnittlichen Anstieg von 46% für beide Geschlechter (vgl. Abbildung). Darüber hinaus verfolgen viele Menschen keine lineare Karriere mehr beim selben Arbeitgeber, sondern wechseln das Unternehmen, kombinieren mehrere Stellen oder arbeiten teilweise als Selbständige. Schliesslich haben sich auch die Erwartungen der Arbeitnehmenden verändert: Gesucht sind eine bessere Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben, mehr Autonomie bei der Organisation der Arbeit und Flexibilität in Bezug auf Arbeitsbelastung, Arbeitszeiten und — wie wir während der Pandemie beobachten konnten — den Arbeitsort.

Ein zu starres Vorsorgesystem

Spiegelt sich diese Vielfalt an Lebensläufen und Erwartungen im heutigen System wider? Nein, die berufliche Vorsorge ist noch in den 1980er Jahren verankert und durch eine Starrheit gekennzeichnet, die nicht mehr der gesellschaftlichen Realität entspricht.

Heute können fehlende Beitragsjahre in der ersten Säule (AHV) nur innerhalb von fünf Jahren rückwirkend nachgeholt werden. Nach Ablauf dieser Frist werden die Beitragslücken endgültig. Ein verpasstes Beitragsjahr führt zu einer lebenslangen Rentenkürzung von 2,3%. Eine Verlängerung der Frist für Nachzahlungen, z.B. innerhalb von zehn Jahren, wäre eine Überlegung wert, um besondere Lebensereignisse wie Karriereunterbrüche, Weiterbildungen und Auslandsaufenthalte besser abdecken zu können.

In der zweiten Säule ist nur der Lohn ab einer bestimmten Schwelle (dem Koordinationsabzug) versichert, und zwar unabhängig vom Beschäftigungsgrad. Dies führt dazu, dass Personen, die gleichzeitig für verschiedene Arbeitgeber oder in Teilzeit arbeiten, schlechter im BVG abgesichert sind. Deshalb ist die in der BVG-Reform vorgesehene Senkung des Koordinationsabzugs zu begrüssen.

Nicht nur bei den Arbeitsformen ist mehr Flexibilisierung in der beruflichen Vorsorge nötig. Derzeit haben die Versicherten kein Mitspracherecht darüber, wie ihre Vorsorgegelder angelegt werden. Ihre Bedürfnisse, ihre Situation und ihre Präferenzen wären besser berücksichtigt, wenn man einerseits den Arbeitnehmern die Möglichkeit gäbe, die Anlagestrategie ihrer Gelder zu bestimmen, und ihnen andererseits die freie Wahl der Pensionskasse gewähren würde.

Auch in der dritten Säule ist mehr Flexibilität notwendig

Man würde denken, dass die von Natur aus individuell angelegte dritte Säule mehr Flexibilität ermöglichte und damit unterschiedliche Lebensstile berücksichtigt. Doch Einzahlungen in die Säule 3a sind nur im jeweils laufenden Jahr möglich, und nur Personen mit einem AHV-pflichtigen Einkommen sind beitragsberechtigt. Diese Einschränkungen ergeben heute keinen Sinn mehr: Warum sollte es jemandem nicht erlaubt sein, nicht eingezahlte Beträge nachzuholen? Es ist möglich, dass Versicherte mit vorübergehenden Einkommenseinbussen konfrontiert sind, die sie daran hindern, ihre dritte Säule aufzufüllen. Beispielsweise wenn ein Elternteil nach der Geburt eines Kindes sein Arbeitspensum reduziert oder bei einer Anpassung des Beschäftigungsgrads, um eine Weiterbildung zu absolvieren oder eine selbständige Tätigkeit aufzunehmen.

Diese Personen sollten die Möglichkeit erhalten, ihre Einzahlungen nachzuholen, wenn sich ihre finanzielle Situation verbessert, genau wie es heute bei Einkäufen in die zweite Säule schon möglich ist. Eine Motion von Ständerat Erich Ettlin, die Anpassungen in diese Richtung vorschlägt, wurde im Juni 2020 vom Parlament angenommen. Es bleibt zu hoffen, dass der Bundesrat mit der Umsetzung der Vorlage schnell vorankommt.

Die Einführung von mehr Flexibilität in allen drei Säulen würde es ermöglichen, besser auf den gesellschaftlichen Wandel zu reagieren, indem den Versicherten mehr Möglichkeiten geboten werden, ihre Vorsorge nach ihren Bedürfnissen zu gestalten. Dies wäre auch ein Vertrauensbeweis für diejenigen Personen, die ihr Schicksal und ihre Altersvorsorge selbst in die Hand nehmen wollen.

Sommerserie: Vergessene Reformen – Reformen zum Vergessen

In unserer diesjährigen Sommerserie erinnern wir an überfällige Reformen, die im politischen Prozess hängengeblieben sind – vergessene Reformen. Wir zeigen auf, wo und warum Avenir Suisse Erneuerungsbedarf ermittelt hat. Anderseits schwirren in der öffentlichen Diskussion auch immer wieder Vorschläge herum, die bisher zurecht nicht umgesetzt wurden. Wir erklären, weshalb es sich dabei um Ideen handelt, die möglichst schnell zu vergessen sind.