Das mehrjährige Projekt der Agrarlobby konnte erfolgreich abgeschlossen werden: Die Agrarpolitik für die Jahre 2022 und folgende (AP22+) wurde auf unbestimmte Zeit sistiert, faktisch sind die angedachten Reformen vom Tisch.
Erinnern wir uns, wie alles begonnen hat: 2017 publizierte der Bundesrat unter Federführung des damaligen Wirtschaftsministers Johann Schneider-Ammann eine agrarpolitische Gesamtschau, die auf heftigste Ablehnung des Schweizer Bauernverbandes (SBV) stiess. Für die Hüter des Status quo gingen die Ansätze einer stärkeren Ausrichtung auf den Markt und die Ökologie zu weit. Die Verbandsspitze des SBV praktizierte eine Politik der leeren Stühle – das Gespräch am bundesrätlich eingefädelten runden Tisch wurde verweigert. Eine Einmaligkeit in der schweizerischen Politkultur, die sich auszahlte: Die Exekutive ruderte zurück, ein Jahr nach der Gesamtschau wurde ein Zusatzbericht publiziert, der die Autoren der Gesamtschau desavouierte. Den Reformideen wurden so viele Zähne gezogen, dass vom Entwurf einer zukünftigen Agrarpolitik nur noch ein zahnloser Mund übrigblieb.
Die auf dem Zusatzbericht aufbauende, nochmals entschärfte Vorlage zur AP22+ wurde als Kompromiss zugunsten der Agrarwirtschaft aufgegleist, was aber in der politischen Ausmarchung noch immer nicht genügte. Das seit Jahrzehnten beinahe geschlossene Festhalten der SVP- und Mitte-Fraktionen am Bestand der Schweizer Agrarpolitik führte in Verbindung mit dem kleinen Agrarflügel der FDP einmal mehr zum Erfolg.
Wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung
Doch das Meisterstück der Agrarlobby hat einen bitteren Beigeschmack: grosse Teile unserer Gesellschaft können sich je länger je weniger mit der aktuellen Ausrichtung der Agrarpolitik identifizieren. So betragen die öffentlichen Ausgaben für den Agrarsektor über alle staatlichen Ebenen mehr als 4,4 Mrd. Fr. pro Jahr, wovon über 700 Mio. Fr. für die Abgeltung ökologischer Leistungen reserviert sind. Die Ergebnisse jedoch sind – positiv formuliert – durchzogen: Von 13 rechtlich verbindlichen Umweltzielen in der Landwirtschaft werden 13 nicht erreicht. Man wundert sich als Steuerzahler, warum dem Recht, das eigentlich für alle gelten sollte, hier nicht Nachachtung verschafft wird. Die Zahlungen in den Sektor mögen hehre Ziele haben und ökologische Begriffe im Namen tragen, sie wirken in grossen Teilen vor allem strukturerhaltend.
Auch der Konsument fühlt sich von der Schweizer Agrarpolitik zunehmend enttäuscht: Wir bezahlen für Fleisch 2,6 Mal so viel wie in der EU, Obst und Gemüse sind 1,8 Mal teurer. Vor der Pandemie führte dies am Wochenende regelmässig zu Staus vor ausländischen Supermärkten im Grenzgebiet. Seit Jahrzehnten wird Konsumierenden in der Schweiz deshalb insinuiert, nur regionale Lebensmittel seien gut, während ausländische Ware unter Generalverdacht steht.
Marketingmässig geschickt begleitet wird dieses Schwarzweiss-Denken durch die Werbung am Fernsehen mit der Botschaft, dass bei uns die Landwirtschaft für die heile Welt stehe – entgegen den Fakten. So importieren wir Kraftfutter für die Viehzucht aus Südamerika, wodurch unsere lokale Nährstoffbilanz aus dem Gleichgewicht gerät. Stattdessen könnte man direkt das Rindfleisch aus Südamerika importieren – doch der rigide Grenzschutz für Agrargüter lässt selbiges nur äusserst eingeschränkt zu. Dass wir als Steuerzahler oft die Hälfte der allabendlichen TV-Werbung – unter dem Agrarbudgetposten «Absatzförderung» – mitbezahlen, dürfte den wenigsten bekannt sein.
Agrarvertreter argumentieren, dass wir über hohe Einkommen verfügen und uns die höheren inländischen Preise für Lebensmittel leisten könnten; im Namen der Umwelt, der Tiere und der Bauernfamilien sogar leisten müssten. Doch auch ausländische Produzenten haben Fortschritte gemacht, produzieren Bio oder mit über das Gesetz hinausgehenden Tierwohlbestimmungen. Die Argumentation, dass hohe Löhne auch zu einem hohen Preisniveau führen, ist kein Naturgesetz. Wie ist es sonst erklärbar, dass das Preisniveau für Lebensmittel in Luxemburg tiefer ist als in Österreich, obwohl Luxemburg höhere durchschnittliche Löhne ausweist?
Bauern kommen auf keinen grünen Zweig
Pro Jahr bezahlt ein durchschnittlicher Haushalt in der Schweiz als Steuerzahler und über die Mehrkosten für Lebensmittel rund 2300 Fr. an den Agrarsektor. Dies ist weltrekordverdächtig. Weniger als die Hälfte des Einkommens eines Schweizer Bauernhofes stammt aus dem Verkauf der Produkte. Es sind staatliche Transfers, die dominieren. Nachteilig für die Steuerzahler und noch nachteiliger für die Bauern verbleiben diese öffentlichen Gelder nicht auf den Bauernhöfen, sie wandern zu Anbietern von Vorleistungen wie Düngemitteln und Saatgut.
Für die Landwirte sind die Beschaffungskosten hoch und Margen auf der Absatzseite gering – auch sie befinden sich in der Zange des Agrarkomplexes. Dieser setzt sich aus wenigen, marktmächtigen inländischen Unternehmen zusammen, die den Verkauf der Vorleistungen, die Verarbeitung der Lebensmittel und das Angebot an die Konsumenten dominieren.
Oftmals landet nicht einmal das Geld der Konsumierenden bei den Landwirten, so beträgt die Marge für Bioprodukte im Detailhandel oft ein Mehrfaches von konventionell produzierten Lebensmitteln. Der Bauernhof sieht davon wenig. Aus dieser Warte ist es verständlich, dass die Bauern im Durchschnitt unzufriedener mit ihrer Lebenssituation sind als der Rest der Bevölkerung. Sie arbeiten übermässig viel und kommen trotzdem nicht auf einen grünen Zweig.
Die Agrarlobby bemüht seit Jahren das Bild der armen «Bauernfamilien», um zusätzliche finanzielle Unterstützung einzufordern. Doch allein mehr Steuergelder macht den Sektor nicht gesünder. Viele Landwirte sind – sprichwörtlich – in einem Hamsterrad gefangen. Um mitzuhalten, muss mehr produziert werden, dies benötigt zusätzlichen Dünger, mehr Kraftfutter sowie Pflanzenschutzmittel und Treibstoffe, was wiederum im Boden, in Gewässern oder als Treibhausgas in der Luft landet. Ein ökonomischer, aber auch ökologischer Teufelskreis.
Für einen unabhängigen Schweizer Bauernstand
Der staatliche Eingriff in den Agrarsektor ist immens. Kein anderer Sektor weist im Verhältnis zur wirtschaftlichen Bedeutung eine so hohe Regulierungsdichte und Subventionierung auf. Grundlage ist eine Agrarbehördenbürokratie mit rund 4000 Seiten Vorschriften, die beinahe jegliche Innovation der Bäuerinnen und Bauern zu ersticken droht. Es ist ein grundlegender Wandel von administrierten Landwirten hin zu landwirtschaftlichen Unternehmern notwendig. Dazu gehört auch eine Emanzipation von den Agrarlobbyisten, die politisch vorgeben, für den gesamten Sektor zu sprechen. Es braucht mehr unabhängige Stimmen, die mit neuen Geschäftsideen die politischen und mentalen Barrieren im Sektor wegräumen.
Über 40% der Landwirte sind über 55 Jahre alt, es wird in den nächsten Jahren zu einem Generationenwechsel auf Schweizer Höfen kommen. Das eröffnet die Chance, eingetretene Pfade zu verlassen. Die Bäuerinnen und Bauern sind innovativ und ihre Zukunftsperspektiven intakt, sofern sie den nötigen unternehmerischen Freiraum erhalten. Es wäre auch dem Selbstbewusstsein einer neuen Agrargeneration zuträglich, wenn das Hofeinkommen mehrheitlich am Markt erwirtschaftet würde und sich die Abgeltung der Gesellschaft auf die Pflege der Landschaft und ökologische Zusatzleistungen beschränken würde.
Umbruch in der Agrarpolitik?
Der parlamentarische Entscheid, die AP22+ zu sistieren, ist mutig. Die bestehende Agrarpolitik soll möglichst unverändert weitergeführt werden. Damit wird jenen Kräften ein Bärendienst erwiesen, die sich für eine Weiterentwicklung einsetzen, um ökologische Aspekte und die Ausrichtung am Markt zu stärken.
Nun besteht das Risiko, dass dem Parlament durch Volksinitiativen das agrarpolitische Heft entrissen wird. Mehrere anstehende oder sich im Sammelstadium befindende Initiativen schlagen (zu) radikale Lösungen vor. Die Widersprüche und Zielkonflikte der Agrarpolitik würden zunehmen – die nötigen Reformen blieben liegen. Der Erfolg der Agrarlobby könnte sich als Pyrrhus-Sieg entpuppen.