Über 4000 Seiten an Gesetzen, Verordnungen und weiteren Vorschriften bestimmen den bäuerlichen Erwerbsalltag. Angesichts des Vorschriftendschungels wird dem Bauernstand die Entwicklung hin zum selbständigen Unternehmertum verunmöglicht. Es bräuchte den breit abgestützten Willen zur Deregulierung, denn das würde Freiraum für Innovationen schaffen.
Beatrice Rüttimann: Kernpunkt einer von Avenir Suisse erarbeiteten 10-Punkte Strategie ist die Grenzöffnung für Agrargüter. Welche Auswirkungen auf die inländische Lebensmittelproduktion hätte die komplette Öffnung?
Patrick Dümmler: Wir sprechen von einem stufenweisen Abbau der Zolltarife und der Kontingente für landwirtschaftliche Güter. Dabei gibt es verschiedene handelspolitische Stellschrauben, an denen gedreht wird, so dass der Übergang zeitlich gestaffelt und verkraftbar gestaltet werden kann. Ein Beispiel: Gegenüber der EU wurden die Zölle und Exportsubventionen gestaffelt für den gesamten Käsesektor abgebaut. Weil dies gegenseitig erfolgte, eröffneten sich Schweizer Käsereien neue Marktchancen, die sie erfolgreich nutzen konnten.
In Österreich hat seit dem EU-Beitritt jeder dritte Bauernbetrieb aufgegeben. Ein denkbares Szenario auch für die Schweiz bei einer Grenzöffnung?
Nein. Denn der Beitritt zur EU bedingte eine rasche, komplette Öffnung des österreichischen Marktes für Agrargüter aus dem Binnenmarkt. Gleichzeitig mussten die Stützungsmassnahmen für den Sektor an die EU-Regeln angepasst werden, das Subventionsniveau sank. Ein EU-Beitritt der Schweiz ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.
Der Anteil für Nahrungsmittel liegt in der Schweiz bei knapp 10 Prozent aller Konsumausgaben. Können wir uns das nicht leisten?
«Agrarvertreter argumentieren, dass wir uns dies im Namen der Umwelt, der Tiere und der Bauernfamilien sogar leisten müssten. Doch auch ausländische Produzenten haben Fortschritte gemacht, produzieren Bio oder mit über das Gesetz hinausgehenden Tierwohlbestimmungen. Die Argumentation, dass hohe Löhne auch zu einem hohen Preisniveau führen, ist kein Naturgesetz. Wie ist es sonst erklärbar, dass das Preisniveau für Lebensmittel in Luxemburg tiefer ist als in Österreich, obwohl Luxemburg höhere durchschnittliche Löhne ausweist?»
Können wir es uns angesichts der Krisen leisten, uns vollständig vom Ausland abhängig zu machen?
In der Agrarpolitik wird oft mit dem Selbstversorgungsgrad argumentiert; dieser soll hoch sein, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Dabei ist es längst nicht mehr so, dass nur Schweiz drin ist, wo «Suisse Garantie» draufsteht. Viele Hilfsstoffe und auch die Produktionsmittel wie Traktoren und der Treibstoff kommen aus dem Ausland. Für die Schweiz ist nicht ein möglichst hoher Grad an Selbstversorgung mit Lebensmitteln anzustreben, sondern eine hohe Versorgungssicherheit. Ein Instrument dazu ist der Bezug von Lebensmitteln aus möglichst vielen verschiedenen Quellen.
Obstproduzentinnen und Obstproduzenten erwirtschaften 95 Prozent ihres Einkommens am Markt. Ist diese Branche nicht genug dem Wettbewerb ausgesetzt?
Die Zahl täuscht darüber hinweg, wie dieses Einkommen erwirtschaftet wird, denn der Markt ist zu gewissen Zeiten vor Importen faktisch abgeschottet. Die protektionistische Schweizer Landwirtschaftspolitik geht zu Lasten der Konsumenten, denn abgeschottete Märkte führen zu weniger Wettbewerb und in der Regel zu höheren Preisen.
Dieses Interview ist in der Ausgabe 3/2022 der Zeitschrift «Schweizer Obst» vom Juni 2022 erschienen.