Es bahnt sich der perfekte Sturm in der Altersvorsorge an. Während das Parlament nach 25 Jahren Blockade mit 156 zu 79 Stimmen endlich eine Lösung der finanziellen Sicherung der AHV gefunden hatte, wurde das Referendum ergriffen. Das Volk wird sich diesen September zur AHV21-Reform äussern dürfen.

In der zweiten Säule ist die Einigkeit im Parlament kaum in greifbarer Nähe, wie die Rückweisung des Dossiers an die zuständige Kommission des Ständerats diese Woche gezeigt hat. Doch ein anderes Thema rund um unsere Renten ist in aller Munde: die Inflation, und damit der potenzielle Kaufkraftverlust der Rentner. Die Gewerkschaften haben bereits den Bundesrat aufgefordert, den bisherigen Preisanpassungsmechanismus der AHV-Renten auszusetzen und eine ausserordentliche Aufstockung verlangt.

Der perfekte Sturm in der Altersvorsorge? Gegen die AHV-Reform wurde das Referendum ergriffen, das BVG-Dossier an die Ständeratskommission zurückgewiesen. (Brandon Morgan, Unsplash)

Wie funktioniert dieser Mechanismus? Gemäss Gesetz passt der Bundesrat die AHV-Renten in der Regel alle zwei Jahre der Lohn- und Preisentwicklung an. Dafür stützt er sich auf den Mischindex: das arithmetische Mittel des vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) ermittelten Lohnindexes und des Landesindexes der Konsumentenpreise.

Wie jede Regel hat sie Vor- und Nachteile. Für die (künftigen) Rentner bietet sie Sicherheit und Planbarkeit. Für das System hingegen bedeutet die Regel, dass sich die Ausgaben unabhängig von der finanziellen Situation der AHV entwickeln. So wurden seit Einführung des Mischindexes 1979 die Minimalrenten von monatlich 525 Franken auf 1195 Franken 2022 mehr als verdoppelt.

Warum rufen die Gewerkschaften gerade jetzt nach einer Aussetzung der Regel? Sie sieht ja eine Berücksichtigung der Inflation vor. Die Schweiz erlebt zudem auch nicht zum ersten Mal eine Teuerung von 2 bis 3 Prozent – die Regel wurde nie in Frage gestellt. Pikanterweise auch dann nicht, als die Teuerung sich in die andere Richtung entwickelte: Nach der Aufgabe des Mindestwechselkurses zum Euro durch die Nationalbank stiegen die Löhne nur minim zwischen 2015 und 2016. Die Inflation in der Schweiz war seit Jahren null oder negativ. Eine strikte Anwendung des Mischindexes hätte zu einer Senkung der AHV-Rente um 6 Franken pro Monat geführt. Doch weder Bundesrat noch Politiker noch die Sozialpartner wagten es, eine konsequente Anwendung des Gesetzes zu verlangen. Der Bundesrat liess die AHV-Renten unangetastet.

Offenbar wird die Anwendung des Mischindexes nur verlangt, wenn sie zu einer Rentenerhöhung führt. Es ist somit eine Schönwetterregel. Mit ihrer Forderung, die Renten nur dann anzupassen, wenn es den über 65-jährigen Wählern dient, verspielen Gewerkschaften und Politiker ihre Glaubwürdigkeit.

Auch wenn sich die Politik grundsätzlich an die von ihr definierten Regeln zu halten hat – nach mehr als 40 Jahren Anwendung darf man deren Zweckmässigkeit durchaus überprüfen. Die Inflation in der Schweiz ist seit langem tief. Zwischen 2001 und 2021 betrug die durchschnittliche Teuerung lediglich 0,4 Prozent pro Jahr, während die Löhne um 1,0 Prozent pro Jahr gestiegen sind. Weil im Mischindex beide Grössen je mit 50 Prozent gewichtet werden, steigen die AHV-Renten weniger schnell als die Löhne (die Steigerung wird durch die tiefe Inflation gedämpft). Damit sinkt die Ersatzrate der AHV, also das Verhältnis der Rente zum bisherigen Lohn, kontinuierlich.

Hingegen profitierten die bisherigen Rentner von einer Rentenerhöhung aufgrund der Lohnentwicklung der Aktiven. Keine Gewerkschaft oder Rentnerorganisation fand dies stossend. Doch die Lohnerhöhungen spiegeln vor allem die Produktivitätssteigerung der Aktiven. Es ist kaum einzusehen, warum letztere die von ihnen erbrachten Produktivitätsgewinne mit den Rentnern teilen sollten.

Es wäre deshalb zu prüfen, ob die Mischindex-Regel durch zwei Anpassungsmechanismen zu ersetzen wäre, wie es zum Beispiel Kanada, Tschechien, Ungarn, Südkorea und zum Teil Japan tun. Die Höhe der AHV-Renten für Neurentner wäre einerseits nur aufgrund der Lohnentwicklung zu definieren. So bliebe die Ersatzrate für alle künftigen Neurentner konstant. Andererseits sollten die laufenden Renten nicht mehr an die Lohnentwicklung gekoppelt werden, sondern nur von der Inflation abhängen. Damit könnte die Kaufkraft der Rentner bei steigenden Preisen gesichert werden. Fairerweise müsste die Rentenanpassung auch bei sinkenden Preisen entsprechend erfolgen.

So könnte eine Regel definiert werden, die für Aktive wie für Rentner Transparenz und Planbarkeit ermöglicht und mehr Gerechtigkeit für die Neurentner sichert, unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Pensionierung. Mit der Umstellung müsste sich jedoch die Politik verpflichten, die neue Regel für die kommenden Jahrzehnte einzuhalten, bei schönem wie bei schlechtem Wetter.

Dieser Beitrag ist am 19. Juni 2022 in der «NZZ am Sonntag» erschienen.