Derzeit herrscht in Europa und Nordamerika eine Fixierung auf die momentane Verteilung von Einkommen und Vermögen. Sie wird von kapitalismuskritischen Kreisen mit einigem Erfolg als ungerecht angeprangert. Der Schweizer Souverän hat zwar vor einer Woche einmal mehr bemerkenswerte Nüchternheit bewiesen und sich von den Schalmeien der Umverteiler nicht einlullen lassen. Doch das Thema ist nicht vom Tisch. Die Forderung nach mehr Umverteilung, mag diese noch so fortschrittshemmend sein, wird uns weiterhin begleiten. In vielen Kreisen geistert die Vorstellung herum, mehr ökonomische Gleichheit sei gleichbedeutend mit mehr Gerechtigkeit.

Gleich ist nicht gerecht

Dabei ist die Verteilung zu einem bestimmten Zeitpunkt ein statisches Konzept. Sie bringt zum Ausdruck, dass es einem Teil der Bevölkerung wirtschaftlich besser geht als einem anderen. Das ist in einer freien, offenen Ordnung eine Selbstverständlichkeit und insofern von geringem Informationswert. Einkommens- und Vermögensgleichheit kann es nämlich, wie schon Ralf Dahrendorf betont hat, nur in statischen und totalitären Ländern geben; man könnte noch ergänzen: und in mausarmen, die sich knapp am Existenzminimum bewegen.

Freie Marktwirtschaften bringen dagegen Wohlstand und Fortschritt, auch für die untersten Schichten, aber sie bedienen das Bedürfnis der Menschen nach Fairness nicht durch Gleichverteilung, sondern durch Durchlässigkeit. Entscheidend sind Aufstiegschancen und Abstiegssanktionen. Unter dem Aspekt der Gerechtigkeit lautet die Gretchenfrage einer liberalen Gesellschaft: Wie hältst du’s mit der Einkommensmobilität? Leider ist die Antwort darauf noch schwieriger als die nach der Verteilung, aber unsere wirtschaftspolitische Grafik gibt doch einige Hinweise.

Hohe Einkommensmobilität im Kanton Zürich

Sie basiert auf der in der NZZ (17. 10. 13) besprochenen, insgesamt noch zu wenig rezipierten Studie «Wie durchlässig ist die Gesellschaft?» des Statistischen Amts des Kantons Zürich. Zugrunde liegen ihr Daten von 491 000 Haushalten, die sowohl 2001 als auch 2010 steuerpflichtig waren. Nicht erfasst werden also jene, die in diesem Zeitraum erst in die Steuerpflicht hineingewachsen sind, etwa weil sie 2001 noch zu jung waren oder erst danach zugewandert sind, oder die umgekehrt aus der Steuerpflicht durch Wegzug oder Tod herausgefallen sind. Da nicht Äquivalenzeinkommen, sondern Haushalte erfasst werden, bleiben ferner Scheidungen oder Familienzuwachs nicht berücksichtigt. Daraus ergeben sich weitere methodische Tücken, die aber an den Aussagen wenig ändern.

Wie ist die Grafik zu lesen? Wichtig ist zu verstehen, dass es sich um relative Mobilität handelt. Das bedeutet, dass ein Haushalt nur aufsteigen kann, wenn ein anderer absteigt – und umgekehrt. Und es bedeutet, dass in einer stark wachsenden Wirtschaft jemand, der absteigt, unter Umständen nur von anderen überholt wurde, aber nicht unbedingt weniger Einkommen erzielt als früher. Die schwarzen Zahlen bezeichnen die Prozentsätze, die sich 2010 noch im gleichen Quintil befanden wie 2001, die grünen Zahlen bilden die Aufsteiger ab, die roten die Absteiger.

Nehmen wir als Beispiel das 2. Quintil, also jene 20% der Bevölkerung, deren steuerbares Einkommen 2001 zwischen 36 000 Fr. und 54 000 Fr. lag. 38% davon gehörten auch 2010 noch zu diesem Quintil, konnten sich somit relativ nicht verbessern. 23% stiegen ins unterste Quintil ab, 39% stiegen dagegen auf, 4% davon ins oberste Quintil. Auch aus dem untersten Quintil schafften es 5% unter die obersten 20%. Von den im Jahr 2001 reichsten 20% gehörten neun Jahre später immerhin fast 40% nicht mehr zur Spitzenklasse, 5% waren sogar ganz unten angekommen. Und vom obersten 1% (in der Grafik nicht ersichtlich) konnte weniger als die Hälfte die erreichte Stellung halten.

Wenn Reiche absteigen

Das ist die wichtigste Aussage der Grafik und der ihr zugrunde liegenden Daten: Die Armen bleiben (ohne staatliches Zutun) nicht einfach arm und die Reichen nicht immer reich.

In Zürich und in der Schweiz herrscht Einkommensmobilität. Im Durchschnitt verharren nur 45% in ihrer Einkommensklasse, 55% verbessern oder verschlechtern sich. Teilt man die Einkommen feiner auf, bildet also Klassen von je 10% (Dezile), resultiert natürlich eine noch viel grössere Mobilität (fast 75%). Und auch über einen längeren Zeitraum hinweg ist die Mobilität grösser.

Eine zweite Beobachtung lautet: Am meisten Bewegung herrscht im Mittelstand, was kaum verwunderlich ist, denn er kann sowohl auf- als auch absteigen. Ganz unten und oben geht es dagegen nur in eine Richtung. Mit diesen Ergebnissen liegt Zürich in Sachen Einkommensmobilität übrigens etwa gleichauf mit reifen Nationen wie Deutschland oder Österreich; in jungen, dynamischen Ländern gibt es natürlich noch mehr Auf und Ab.

Ein grosser Teil der abgebildeten Mobilität erklärt sich mit dem Lebenszyklus. In jungen Jahren verdient man eher weniger, oft, weil man noch in seine Bildung investiert, dann aber geht es aufwärts, bis etwa zum Alter 50. Danach findet kaum noch Aufstieg statt. Damit weist die Grafik auch auf die Fragwürdigkeit der Fixierung auf die statische Verteilung hin. Wenn man alle Einkommen zu einem bestimmten Zeitpunkt in einen Topf wirft, vergleicht man nämlich so unterschiedliche Einkommen wie das einer Praktikantin, die sich ihre Ausbildung finanziert, und das eines Arztes am Ende seiner Laufbahn. Viel wichtiger ist dagegen die Einkommensmobilität, dass man also in einer Gesellschaft mittels Leistung (und Glück, das es immer auch braucht) aufsteigen kann, dass man aber umgekehrt auch für mangelnde Leistung durch Abstieg sanktioniert wird.

Dieser Artikel erschien in der  »Neuen Zürcher Zeitung» vom 30. November 2013.
Mit freundlicher Genehmigung der «Neuen Zürcher Zeitung».