Für die klassischen Ökonomen – allen voran David Ricardo – stand die funktionale Einkommensverteilung im Vordergrund. Ricardo formulierte erstmals eine Theorie, die erklärt, wie das Einkommen eines Landes auf die beteiligten Produktionsfaktoren (Arbeit, Boden und Kapital) verteilt wird. In den spätfeudalen agrarischen Gesellschaften des frühen 19. Jahrhunderts war diese Problemstellung beinahe gleich bedeutend mit der personellen Einkommensverteilung, denn die Klassen waren klar abgegrenzt und undurchlässig.
Der Einfluss der Industrialisierung auf die Einkommensverteilung
Mit der Aufweichung der Klassengrenzen verschob sich das Interesse der Ökonomen zunehmend auf die personelle Verteilung der Einkommen. Trotzdem sind viele Aspekte der funktionalen Verteilung aktuell und hochbrisant geblieben. Hinter dem nicht enden wollenden Ringen um die Regulierung des Wohnungsmarktes (Kostenmiete) steht letztlich die Frage, wem die «unverdiente» Bodenrente (auch dies ein Konzept Ricardos) zusteht: den Bodenbesitzern oder den Mietern. Auch die Minder-Initiative drehte sich um die Aufteilung von Gewinnen zwischen hochqualifizierter Arbeit und Kapital.
Es ist wesentlich schwieriger, die personelle Verteilung der Einkommen zu erklären und Voraussagen darüber zu machen. Ein viel beachteter, wenn auch nie überzeugend belegter Ansatz stammt von Simon Kuznets (1955), wonach die Ungleichheit der Einkommen in einer Gesellschaft verschiedene Phasen durchlaufe und damit einem umgekehrten «U» folge: Ausgehend von einer geringen Einkommensspreizung in der vorindustriellen Phase – fast alle sind Bauern – nehme die Ungleichheit mit der Industrialisierung zu, da die ungestüm wachsende Produktion vorerst vor allem den Unternehmern, Kapitalbesitzern, Ingenieuren und Erfindern zu Gute käme. Mit einem wachsenden Anteil von Dienstleistungen bilde sich aber eine Mittelschicht aus und die Einkommen glichen sich wieder an.
Schweizer Einkommen weit über dem OECD-Mittel
Innerhalb der OECD unterscheiden sich heute sowohl Einkommensniveaus als auch Einkommensverteilung stark. Die Grafik zeigt auf der X-Achse das kaufkraftbereinigte Pro-Kopf-Volkseinkommen (netto nach Abschreibungen, in US$ 2011). Diese Grösse ist ein guter (wenn auch nicht perfekter) Indikator für das Wohlstandsniveau eines Landes. Die Ungleichheit (auf der Y-Achse) wird gemessen als Gini-Koeffizient der verfügbaren Äquivalenzeinkommen in der erwerbsfähigen Bevölkerung. Mit dem Äquivalenzeinkommen werden Mehrpersonenhaushalte mit Single-Haushalten vergleichbar.
Die Pro-Kopf-Einkommen der meisten OECD-Länder konzentrieren sich im Bereich zwischen 25‘000 und 35‘000 US $ pro Jahr. Die Gini-Koeffizienten streuen im Bereich von 0.25 und 0.35, den man mit mittlerer Ungleichheit umschreiben könnte. Es fällt auf, dass einige wenige Länder ausserhalb der Datenwolke liegen. Es sind dies die USA, Norwegen, Luxemburg und die Schweiz. Bezüglich dem durchschnittlichem Pro-Kopf-Einkommen liegen die Schweiz (43‘600 $) und die USA (42‘800 $) praktisch gleichauf, mit leichtem Vorteil für die Schweiz. Das Schweizer Pro-Kopf-Einkommen beträgt damit 43% mehr als der OECD-Durchschnitt und ist 27% höher als das deutsche. Die weit überdurchschnittlichen Schweizer Einkommen sind gegenüber dem Mittel der OECD deutlich gleichmässiger auf die Bewohner verteilt, und besonders auffallend ist der Unterschied gegenüber dem «Land der unbegrenzten Möglichkeiten». Mit einem Gini-Koeffizienten von 0.37 weisen die verfügbaren Einkommen der USA die höchste Ungleichheit aller betrachteten Länder auf.
Norwegen und Luxemburg als «Sonderfälle»
Aus dem Rahmen fallen Norwegen und Luxemburg. Das Land der Wikinger geniesst die Vorteile seines natürlichen Reichtums: Fast 20% des norwegischen Sozialproduktes gehen auf Erdölexporte zurück. Ohne dieses Zusatzeinkommen läge das norwegische Pro-Kopf-Einkommen fast exakt auf dem Niveau der Schweiz. Noch etwas wohlhabender als die Norweger sind die Luxemburger mit 540‘000 Einwohnern und einem Ausländeranteil von fast 45%. Der Anteil der Luxemburger Finanzindustrie am BIP beträgt rund einen Viertel. Eigentlich sind Luxemburgs Primäreinkommen aufgrund der vielen hohen Einkommen aus dem Finanzsektor recht ungleich verteilt. Der Staat korrigiert die Verteilung jedoch stark und drückt die Spreizung der verfügbaren Einkommen in etwa auf das Niveau der Schweiz.
Der Kanton Genf ist bezüglich Grösse, Wirtschaftsstruktur und Einkommensniveau mit Luxemburg vergleichbar. Es ist anzunehmen, dass auch die Einkommensverteilung derjenigen von Luxemburg ähnelt. Wäre der Kanton Genf ein selbständiger Stadtstaat ausserhalb der Schweiz, würde er in der Grafik in der Nähe Luxemburgs zu liegen kommen. Dies zeigt die Schwierigkeit solcher Ländervergleiche auf, denn es werden sehr unterschiedlich grosse Räume verglichen.
Kurzum: Unter Ausklammerung der «Speziallfälle» Norwegen und Luxemburg schafft es kein anderes Land wie die Schweiz, einen so hohen Wohlstand zu schaffen und diesen gleichzeitig relativ breit zu verteilen. Besonders muss sie den Vergleich mit den ebenfalls erfolgreichen nordischen Staaten Europas keineswegs scheuen.