Am zweiten Tag meiner Reise durch die deutsche Energiewende besichtigen wir unter anderem ein Passivhaus in Berlin-Mitte. Das Beispiel illustriert nicht nur die Einsparpotenziale im Gebäudebereich, sondern auch eine spezielle Vermischung zwischen Energieeffizienz und soziokulturellem Kontext der Bewohner.
Eines vorweg: Auch ein Passivhaus braucht Energie. Ganz ohne kommt auch dieses nicht aus. Passiv heissen Häuser, wie eben dieses an der Schönholzerstrasse in Berlin-Mitte, weil ein Grossteil ihres Wärmebedarfs passiv gedeckt wird – durch die Nutzung von Sonneneinstrahlung sowie der Abwärme von den darin lebenden und arbeitenden Personen und der technischen Geräte wie Waschmaschine, Drucker, Kopierer etc. Nach deutschem Standard gilt, dass bei einem (zertifizierten) Passivhaus die maximale Heizlast nicht mehr als 10 Watt pro Quadratmeter betragen darf. Der jährliche Energieverbrauch für Heizzwecke pro Quadratmeter soll gleichzeitig nicht höher als 15 KWh pro Quadratmeter sein – das ist rund 90% weniger als der durchschnittliche Heizenergiebedarf im deutschen Baubestand. Daneben gelten für Passivhäuser zusätzliche Bewertungskriterien in Bezug auf Primärenergiebedarf, Luftdichtheit und Kühlung. Ich erspare dem Leser die weiteren technischen Details und verweise auf Informationen des deutschen Passivhaus Instituts. Kurz: Das Passivhaus verfügt über gute Isolation, so dass die Aussenhülle möglichst luftdicht ist. Heizenergie benötigt das Haus daher nur noch wenig, etwa an besonders kalten Tagen. Diese bescheidene «Restheizung» wird dann über eine Nachwärmung der Zuluft (im Lüftungssystem) sichergestellt, so dass kein aktives Heizungssystem (und auch keine Klimaanlage) nötig sind. Das Konzept Passivhaus ist etwa vergleichbar mit dem in der Schweiz bekannteren Minergie-P-Label. Das Grundprinzip der beiden Konzepte ist ähnlich und basiert in erster Linie auf der Qualität der Gebäudehülle.
Beim Passivhaus an der Schönholzer Strasse handelt es sich um ein 7-geschossiges Wohn- und Gewerbegebäude. Das erste in Berlin realisierte mehrstöckige Passivhaus verfügt über 19 Wohnungen mit einer Fläche von 60 m² bis 140 m²,Gewerbe- und Gemeinschaftsräume sowie eine für alle Parteien zugängliche Dachterrasse. Konstruiert ist das Gebäude mit einem Kern aus Stahlbeton sowie einer vorgehängten, wärmedämmenden Holzfassade. Die Aussenwandstärke beträgt 37 cm, davon dienen 34 cm der Dämmung. Das Wärmedämmkonzept wird ergänzt durch eine solarthermische sowie eine Grauwasser-Anlage. Technisch ist der Bau auf jeden Fall beeindruckend – auch wenn das Passivhaus-Zertifikat inzwischen bereits durch noch sportlichere Label überholt wurde, etwa das Plus-Energie-Haus, also ein Gebäude mit gar positiver Energiebilanz. Unberücksichtigt bleibt bei diesen Konzepten allerdings jener Primärenergiebedarf, der für die Herstellung, Transport etc. der Baumaterialien verwendet wird, also die graue Energie. Tatsächlich übersteigt bei vielen Niedrigenergiehäusern die nötige Herstellungsenergie zuweilen den Verbrauch an Betriebsenergie. Offenbar aber zeigen Studien, dass sich die Mehrenergie für die Gebäudeerstellung in Grenzen hält.
Solche von Ingenieuren gerne gemachten Energiebilanzierungen wären weniger relevant, wenn die Energie den richtigen Preis hätte, der auch allfällige externe Kosten berücksichtigen würde. Die Mehrkosten der aufwändigeren Bauweise wären dann wesentlich durch die Mehrkosten der dafür aufgewendeten Energie bestimmt. Für die Optimierung des Energieverbrauchs im Gebäudesektor bräuchte es keine weiteren Vorschriften oder Subventionen – jedenfalls nicht, solange Bauherren rationale Investoren und Preissignale tatsächlich unverzerrt sind.
Als Faustregel kann man offenbar davon ausgehen, dass Passivhäuser bei ihrer Erstellung heute rund 6% teurer sind als konventionelle neue Gebäude. Ob sich die Mehrkosten lohnen, hängt letztlich von den künftigen Energiekosten ab. Im Falle des Passivhauses in Berlin versichert der Architekt, dass die Mehrkosten des Baus durch die Energieeinsparung wett gemacht würden. Einige deutsche Städte haben den Passivhausstandard bereits als Minimum für Neubauten definiert, konventionell gebaute Gebäude werden dort nicht mehr genehmigt. Bald werden voraussichtlich in ganz Deutschland minimale Bauvorschriften gelten, die nahe am Passivhausstandard liegen.
Keine Voraussetzung für eine Zertifizierung oder Baugenehmigung ist dagegen das an der Schönholzer Strasse angewendete «soziokulturelle Konzept». Das Passivhaus wurde gleichzeitig mit dem Label «Mehrgenerationen Wohngebäude» versehen. Im Gebäude gibt es elf Wohnungseigentümer sowie eine Genossenschaft mit acht Wohnungen, die vor allem Senioren vorbehalten sind. Offenbar handelt es sich bei den Wohnungseigentümern ausschliesslich um Akademiker, darunter Künstler, Architekten, Programmierer, Journalisten. Will ein Besitzer seine Wohnung wieder verkaufen, muss er den Mitbewohnern drei mögliche Käufer vorschlagen, aus denen diese schliesslich den Passenden wählen können. Die Energiewende ist – nach Ansicht vieler in Deutschland – eben nicht nur als ein technisch-ökonomisches Projekt, sondern auch als eine Art neuer Lebensstil zu begreifen, der Teil einer viel umfassenderen Nachhaltigkeit ist.
Auf Einladung des Auswärtigen Amtes reist Urs Meister, Projektleiter und Mitglied des Kaders von Avenir Suisse, während fünf Tagen durch die deutsche Energiewende. In einer kleinen Blog-Serie berichtet er über seine Eindrücke.
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Die vagen Ziele der deutschen Energiewende