Christine Schnapp: Marco Salvi, wie würde sich die Gesellschaft verändern, wenn nicht mehr geerbt würde?
Marco Salvi: Abstrahiert man von den offensichtlichen Einbussen bei den Erben und den Einschränkungen der Erblasser, würde eine vollkommene Besteuerung der Erbschaften zunächst paradoxerweise nicht viel ändern, denn das besteuerte Kapital (von den Immobilien bis zu den Unternehmen) besteht bereit. Dieses Vermögen wäre nun anders verteilt. Doch mit der Zeit würden wichtige Anpassungen stattfinden. Ich denke da an die veränderten Spar- und Arbeitsanreize der Erblasser. Die Sicherung einer besseren Zukunft für die eigenen Nachkommen stellt ein wichtiges Sparziel dar, man denke nur schon an den Hauskauf. Dieses Motiv würde nun entfallen. Auch das Unternehmertum wäre entmutigt. In diesem Sinne stellt die Erbschaftssteuer eine Einladung dar, das verdiente Geld in teuren Konsumgütern zu verprassen. Langfristig wäre die Steuerbasis – das Kapital – also schmaler. Das hätte auch für die Nicht-Erben Kosten, weil Kapital uns alle produktiver macht.
Warum soll die zufällige Verteilung von Talent und Stärke gerechter sein als die zufällige Verteilung von Geld?
Talente sind eben nicht zufällig verteilt. Der Einfluss der Eltern auf die Talentbildung ist gross – und dieser Einfluss drückt sich nicht so sehr in Form von Geld aus, sondern vor allem in Form von Zeit und Zuneigung. Deshalb zielen die Befürworter der Erbschaftssteuer letztlich auf die falsche Scheibe, denn die Ursachen der sozialen Ungleichheiten liegen nicht primär in der Vererbung von Vermögen, sondern in der Verteilung von Wissen und Kompetenzen.
Haben wir eine neue Zweiklassengesellschaft: Erben und Nicht-Erben, so wie früher Adlige und Nicht-Adlige?
In der Schweiz ist die Konzentration des Privatvermögens seit über einem Jahrhundert äusserst stabil. Zählt man zum Vermögen noch alle Anwartschaften der zahlreichen Sozialversicherungen hinzu, würde ich sogar meinen, dass die Vermögensungleichheit hierzulande eher abgenommen hat. Dieses Sozialvermögen lässt sich zwar nicht direkt vererben, trotzdem werden damit viele Rechnungen beglichen. Es ist also sehr wohl real.
Wie sollte dieses Geld denn verteilt werden?
Wichtig scheint mir, dass die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft angemessen gestützt werden und dass langfristig alle bessergestellt werden können. Diese Aufgaben hat unsere soziale Marktwirtschaft bisher erfüllt – sogar jenseits der kühnsten Träume unserer Vorfahren.
Eigentlich will unsere Gesellschaft gleiche Aufstiegschancen bieten, je mehr aber vererbt und Vermögen angehäuft wird, desto weniger ist das so. Das birgt auch sozialen Zündstoff, die Gesellschaft zerfällt. Wie vertragen sich das Erben und liberale Werte?
Die Frage nach der Chancengleichheit ist ungleich komplexer als jene der «blossen» Vermögensungleichheiten. Eine offene, demokratische Gesellschaft und der ungehinderte Zugang zu Märkten – nicht zuletzt zum Arbeitsmarkt – scheinen mir die besten Mittel, um eine nachhaltige soziale Mobilität zu gewährleisten. Bisher ist uns das nicht schlecht gelungen.
Warum die Empörung über Erbschaftssteuern, nicht aber über Lohnsteuern?
In der Tat bin ich als Ökonom immer der Meinung, dass man in Alternativen denken muss. Ich würde aber eher fragen, warum die Schweiz, von allen möglichen Kapitalsteuern (dazu zählt auch die Erbschaftssteuer), eine hohe Vermögenssteuer gewählt hat. Eine moderate Erbschaftssteuer wäre besser als die heutige Vermögenssteuer. Beides zusammen geht aber nicht.
Das Interview erschien am 28. Mai 2015 im «doppelpunkt»-Magazin unter dem Titel «Gleich lange Spiesse oder Zweiklassengesellschaft?». Mit freundlicher Genehmigung des «doppelpunkt»-Magazins.