Braucht das Modell Schweiz eine Generalüberholung? Ja, sagt Peter Grünenfelder in der NZZ-Verlagsbeilage zum diesjährigen Swiss Economic Forum.

In Sonntagsreden wird gern auf die Errungenschaften der Vergangenheit und den heutigen Wohlstand der Schweiz verwiesen; spätestens wenn in 53 Tagen der 725. Geburtstag der Eidgenossenschaft gefeiert wird, ist es wieder so weit.

Doch die moderne Schweiz ist jung. Sie existiert seit 1848. Nur: Damals war der Wohlstand äusserst bescheiden. Erst im Verlaufe des 20. Jahrhunderts erreichte die Schweiz Reichtum. Wesentliche Erfolgspfeiler der Prosperität für weite Kreise der Bevölkerung waren die unternehmerische Innovationskraft, die ausgeprägte Internationalisierung und staatliche Rahmenbedingungen, welche das freie Spiel der Kräfte nicht hemmten. Diese Pfeiler tragen bis heute: Unser Land ist gemäss WEF das wettbewerbsfähigste Land der Welt. Doch die dunklen Wolken mehren sich. Es droht ein Wetterumsturz, der das wirtschaftliche Erfolgsmodell Schweiz und seine Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig infrage stellt.

Das qualitative Wachstum gemessen an der Arbeitsproduktivität verläuft seit längerem unterdurchschnittlich. Bis 1970 war die Schweiz nach Luxemburg und den USA noch das drittproduktivste Land der Welt. 2014 findet sie sich auf Platz 10 wieder. Die wachsende Kluft zwischen der hochproduktiven Exportwirtschaft und dem teilweise geschützten Binnensektor führt zu einer zweigeteilten Wirtschaft.

Transantlantic DC-6 B der Swissair. (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Swissair Photo AG)

Stolzer Blick zurück in die Vergangenheit – aber wohin steuert die Schweiz in Zukunft? Eine Transantlantic DC-6 B der Swissair. (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Swissair Photo AG)

Wies die Schweiz bis Mitte der 70er-Jahre eine Investitionsquote von deutlich über 30 Prozent aus, so liegt diese mittlerweile noch knapp über 20 Prozent. Sollen Produktivitätsfortschritte realisiert werden, ist das Klima für Investoren zwingend zu verbessern. Das gelingt nur mithilfe von fortschrittlichen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen und einer weiteren Integration in die Weltwirtschaft. In beiden Bereichen besteht erhebliches Verbesserungspotenzial.

Kostentreiber Bürokratie

So wirken etwa hausgemachte Probleme wie die administrativen Belastungen kostensteigernd und schränken den unternehmerischen Spielraum ein. Über 70 Prozent der KMU und 88 Prozent der Grossunternehmen stufen gemäss Seco die administrative Belastung in unserem Land als hoch ein. Die Schweiz ist im «Ease of Doing Business»-Index der Weltbank innert kurzer Zeit von Platz 11 (2005) auf Rang 26 (2016) abgerutscht.

Dazu kommen innenpolitische Dauerangriffe auf den vergleichsweise (noch) liberalen Arbeitsmarkt mit Forderungen nach einem weiteren Ausbau der flankierenden Massnahmen oder für gesetzliche Höchst- und Mindestlöhne.

Auch bei der weiteren Integration in die Weltwirtschaft herrscht Handlungsbedarf. Anstatt rasch neue Märkte zu erschliessen und bestehende Handelsbeziehungen auszubauen, beherrschen Abschottungstendenzen den öffentlichen Diskurs. Noch ist die Schweiz eine der offensten Volkswirtschaften der Welt. Mit Abstand wichtigster Handlungspartner bleibt Europa. 2015 gingen 54 Prozent aller Exporte in die EU und 72 Prozent der Importe stammten von dort. Fielen die Bilateralen I weg, würde das BIP gemäss Studien in den nächsten 20 Jahren kumuliert um 460 Milliarden Franken weniger wachsen, einhergehend mit spürbaren Einbussen für Herrn und Frau Schweizer beim Lohnwachstum.

Die teilweise sinkende Qualität helvetischer Rahmenbedingungen zeigt sich auch im Umgang mit dem demografischen Wandel. Seit Einführung der AHV 1948 hat sich die Lebenserwartung nach der Pensionierung verdoppelt. Das gesetzlich fixierte Rentenalter erscheint infolge dessen und absehbarer Engpässe auf dem Arbeitsmarkt überholt. Hält der Wachstumstrend an, werden die Aufwendungen für Soziales schon bald den Grossteil der öffentlichen Budgetposten ausmachen und zulasten volkswirtschaftlich bedeutender Budgetpositionen wie Bildung und Infrastruktur gehen. Trotz dieser besorgniserregenden Ausgangslage sieht die gegenwärtig von den eidgenössischen Räten behandelte AHV-Reform 2020 von einer umfassenden Neuausrichtung der Alterspolitik ab.

Unsere halbdirekte Demokratie, lange Garant für politische Stabilität und Kompromissbereitschaft, führt immer mehr zu Rechts- und Investitionsunsicherheit. Die Zahl der Abstimmungen infolge Initiativen und Referenden hat sich gegenüber der Mitte des letzten Jahrhunderts verfünffacht.

Angesichts dieser primär hausgemachten Fehlentwicklungen ist eine Reformagenda nötig, die sich an mehr Markt, Wettbewerb und Offenheit ausrichtet. Die Phase der Bequemlichkeit, Strukturerhaltung und Abschottung der letzten Jahre muss einer Ära der Unbequemlichkeit mit weitreichenden strukturellen Reformen weichen.

Neben der grundsätzlichen Verhinderung von neuen Regulierungen, zum Beispiel durch die Einführung einer Regulierungsbremse, gilt es den Tatbeweis zu erbringen, dass man es mit einem Bürokratieabbau-Paket ernst meint.

Faktenorientierung vs. Ideologie

Im aussenwirtschaftlichen Diskurs sind weniger Ideologie und mehr Faktenorientierung nötig. Sieben der zehn wichtigsten Handelspartner der Schweiz sind Mitglieder der Europäischen Union. Schliessen die USA mit der EU den Transatlantischen Freihandelsvertrag TTIP ab, hat dies für unsere Unternehmen und Arbeitsplätze enorme Bedeutung, betrifft es doch den Handel der zwei wichtigsten Wirtschaftspartner. Gefragt ist deshalb ein verstärktes Engagement für eine (wirtschafts-) politisch offene Schweiz mit einem weitergehenden Abbau der Zölle und der technischen Handelshemmnisse sowie mehr Einsatz für die Personenfreizügigkeit.

Letztlich sind auch strukturelle Reformen entschiedener als bisher anzugehen. Führt man sich vor Augen, dass 18 der 34 Staaten der OECD das Rentenalter erhöht haben und die Schweiz weltweit eine der höchsten Lebenserwartungen ausweist, ist das gesetzlich fixierte Rentenalter grundsätzlich aufzuheben und gleichzeitig die Schuldenbremse bei der Altersvorsorge einzuführen. Weiter sollten wir uns den Defiziten im Bereich des Finanzausgleichs stellen. Die Anreizstrukturen für die ressourcenschwächsten Kantone, wettbewerbsfähiger zu werden, sind ungenügend. Parallel dazu entstehen zunehmend Verbundaufgaben zwischen Bund und Kantonen mit unklaren Verantwortlichkeiten. Eine Reform des Finanzausgleichs und eine neue Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen sind dringend geboten. Zu solchen Vorlagen soll sich abschliessend der Souverän äussern. Seine Rechte sind im Zuge von eDemocracy zu modernisieren – zugleich ist eine dynamische Komponente einzuführen, die Unterschriftslimiten für Initiativen und Referenden an das Bevölkerungswachstum koppelt.

Die eingangs erwähnten Sonntagsredner werfen meist einen stolzen Blick zurück in die Vergangenheit. Die Frage bleibt, ob sie in den nächsten Jahrzehnten stolz auf eine umfassende Reformagenda zurückblicken können, die im ersten Quartal des 21. Jahrhunderts liebgewonnene helvetische Traditionen aufbrach, die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt über Einzelinteressen stellte und damit nachhaltig den Wohlstand und die Kohäsion der Schweiz sicherte.

Dieser Text ist in der NZZ-Verlagsbeilage vom 8. Juni 2016 zum Swiss Economic Forum erschienen.