Die Schweiz ist ein Hort des Mittelstands. In kaum einem anderen Land wird er derart stark als Garant für wirtschaftliche Dynamik und politische Stabilität wahrgenommen wie hierzulande. Je nach Definition gehören mindestens 60 Prozent der Bevölkerung dazu, und in einer Strassenumfrage würden sich sicherlich 90 Prozent der Befragten als «Mittelständler» bezeichnen. So heterogen der Mittelstand ist, so weitläufig und diffus sind die Diskussionen über seine Sorgen: Stagnierende Löhne, eine sich öffnende Einkommensschere, erodierende Kaufkraft oder die Konkurrenz durch qualifizierte Zuwanderer im Arbeits- und Wohnungsmarkt plagen den Mittelstand.

Im internationalen Vergleich geht es dem Schweizer Mittelstand ausgesprochen gut, materiell hat sich seine Lage in den letzten 20 Jahren sogar verbessert. Von einer Erosion kann also – im Gegensatz zu vielen anderen Ländern – nicht gesprochen werden. Dennoch hat sich die Befindlichkeit des Mittelstandes verschlechtert, denn diese hängt auch von der relativen Position in der Gesellschaft ab: Die mittleren Löhne sind langsamer gestiegen als die niedrigen und vor allem die hohen Gehälter. Die massive staatliche Umverteilung erschwert es dem Mittelstand zudem, sich nach unten abzugrenzen oder umgekehrt aufzusteigen. Dies schürt Abstiegsängste, und es dämpft Aufstiegsambitionen, die beide zum Wesensmerkmal des Mittelstands gehören.

Die Mittelstandsdebatte hat zwei Facetten, die häufig miteinander vermengt werden: eine Aussen- und eine Innensicht. Die Erosion der Mittelschichten in den USA und weiten Teilen Europas prägt die Aussensicht. Obwohl der Schweizer Mittelstand von vergleichbarem Druck weitgehend verschont blieb, dringen diese Probleme auch in die Schweizer Mittelstandsdebatte.

Mehrere sich überlagernde Trends führten seit den späten 1980er Jahren zu der Erosion der Mittelschichten Europas und der USA: Durch den Eintritt der Schwellenländer in den Weltmarkt verdoppelte sich der globale Arbeitskräftepool von 1,5 auf 3 Milliarden, eine Entwicklung, für die der US-Ökonom Richard Freeman den Begriff «die grosse Verdopplung» prägte. Dies brachte für westliche Arbeitnehmer nicht nur Niedriglohnkonkurrenz. Da die Schwellenländer mit geringem Kapitalstock in den Weltmarkt eintraten, verschob sich auch das globale Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital. Dies führte zu Lohndruck und Arbeitslosigkeit in den westlichen Industrieländern.

Hinzu kam ein technologischer Wandel, der gut Qualifizierte begünstigte und zu einer Polarisierung des Arbeitsmarktes führte. Während die Top-Einkommen stark zunahmen, stagnierten die mittleren Einkommen – ein Trend, der in der amerikanischen Mittelstandsdebatte unter dem Schlagwort «die grosse Stagnation» debattiert wird (dank dem gleichnamigen Buch des Publizisten Tyler Cowen). Diese Entwicklungen nährten einen Krisendiskurs zur Mittelschicht in vielen westlichen Industrieländern.

In der Schweiz dämpfen hingegen zahlreiche Sonderfaktoren die Probleme des Mittelstandes. Die Schweiz hat die geringste Arbeitslosigkeit und die höchste Erwerbsquote in der OECD. Sie ist eines der wenigen Industrieländer, in denen die Lohnquote (das heisst der Anteil der Löhne am Volkseinkommen) seit den 90er Jahren nicht zurückging. Die Einkommen liegen, vor allem in der Mitte der Verteilung, weit über dem europäischen Durchschnitt, und die Reallöhne stiegen selbst während der Krise. Die Schweiz hat eine hohe Sparquote und wachsende Privatvermögen. Dank solider Staatsfinanzen waren keine schmerzhaften Sparprogramme nötig. Die kapitalgedeckte Altersvorsorge zählt zu den am besten entwickelten in der OECD. Die gute Wirtschaftslage, ein flexibler Arbeitsmarkt und die hohe Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz haben ihren Mittelstand vor Erosion weitgehend geschützt.

Die Innensicht ist aber eine ganz andere, und diese kreist um das Wesen der Schweiz. Wie kaum ein anderes Land definiert sich die Schweiz aus ihrer Mitte heraus. Dies hat historische Wurzeln. Die Bürger sind das Fundament des Gemeinwesens, sie bestimmen seine Geschicke von der Basis aus. Konkreter Ausfluss daraus ist das Milizprinzip, das das Recht und gleichzeitig die Pflicht zur Teilnahme am Staat umfasst. Diese Staatsidee macht bis heute das Selbstverständnis der Schweiz aus. Sie erklärt die instinktive Abwehrhaltung gegen die Extreme und eine Skepsis gegenüber den Eliten. Noch immer werden Erfolg und Reichtum darum eher zurückhaltend zur Schau gestellt. Auch das Bildungssystem neigt zur Mitte. Die Berufslehre war und ist äusserst erfolgreich in der Bildung mittlerer Qualifikation, ihre hohe Integrationsleistung verhinderte die Entstehung einer wirklichen Unterschicht. Nicht von ungefähr pflegt die Volksschule die Kultur, möglichst alle auf den gleichen Stand zu bringen. Die Begabtenförderung betrachtet man mit Skepsis, und Privatschulen haben einen schweren Stand.

Wenn nun in diesem Land die mittleren Löhne unter Druck geraten, so kann das nicht als typisch helvetische Luxusdiskussion abgetan werden. Denn hier wird an den Grundfesten des Selbstbildes gerüttelt. Der heimische Mittelstand ist durch die anhaltende Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte zudem mit einer neuen Konkurrenz im Arbeits- und Wohnungsmarkt konfrontiert. Anders als bei der Einwanderung der 80er und 90er Jahre vermittelt dies gerade der alteingesessenen Mitte das Gefühl, zurückzufallen, selbst wenn sich ihre Position absolut gesehen nicht verschlechtert hat. Gerade auch weil der Mittelstand von Natur aus über ein ausgeprägtes Sensorium für Statusfragen verfügt. Die vergleichsweise geringe Zunahme der mittleren Einkommen ist besonders frustrierend für eine Mittelschichtsgeneration, für deren Eltern der soziale Aufstieg im allgemeinen Wirtschaftsaufschwung der 50er bis 70er Jahre zur Selbstverständlichkeit geworden war. Damals befanden sich noch alle gemeinsam im Lift nach oben.

Das Unbehagen wird auch durch die Boulevardisierung der Medien genährt – ein Celebrity-Kult, Milliardärsrankings und ständige Berichte über die Extravaganzen der Superreichen verschieben die Massstäbe, an denen der Mittelstand seine Position misst.

Staatliche Aktivitäten beeinflussen die Befindlichkeit des Mittelstandes ebenfalls. Denn der Staat nimmt über seine Einnahmen (Steuern, Abgaben, Sozialversicherungsbeiträge) und über seine Leistungen (finanzielle Transfers, Service Public, Bildung, Kultur) einen massiven Einfluss auf die individuellen Positionen im Einkommensgefüge. Dies ist ein weiterer Grund für den Unmut: Insgesamt sind die gutgemeinten Verbilligungen und Zuschüsse für den Mittelstand ein Nullsummenspiel, weil er sie zu einem grossen Teil selbst bezahlt. Nach allen Abgaben und Transfers findet sich ein grosser Teil des Mittelstands in der Nähe der Grenze zur Unterschicht wieder. Die Leistungen kommen vornehmlich der Unterschicht zugute, und so hebt der Staat die Mehrzahl der tiefen Einkommen fast auf das Niveau des unteren Mittelstands. In der Mitte der Verteilung entscheidet heute viel weniger das erarbeitete Einkommen über die relative wirtschaftliche Stellung als das Ausmass, in dem die Haushalte von staatlichen Leistungen profitieren. Der Staat pflügt also die individuellen Positionen, wie sie sich aus erarbeiteten Löhnen und Kapitalerträgen ergeben, gründlich um. Das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit wird dadurch untergraben.

Gravierender ist, dass die Anreize, mehr zu leisten, bedenklich geschwächt werden. Nicht nur die Steuerprogression belastet das erarbeitete Einkommen der mittelständischen Haushalte, das Entgelt der eigenen Anstrengung wird vom wohlmeinenden Staat an vielen Stellen noch weiter geschmälert. Zwei davon fallen besonders ins Gewicht: einkommensabhängige Tarife für die externe Kinderbetreuung und die Verbilligung der Krankenkassenprämien. Gerade im Mittelstand führt die direkte Kopplung dieser Tarife an das Einkommen zu einer massiven Belastung der meist von Frauen erbrachten Zweitverdienste. Ein Beispiel: Verdient ein voll arbeitender Ehemann zwischen 70 000 und 100 000 Franken, gehen bei seiner Partnerin, die 40 Prozent arbeitet, 40 Rappen jedes zusätzlich verdienten Frankens verloren. Bei höherem Arbeitseinsatz der Frau gehen gar 70 bis 90 Rappen pro erarbeiteten Franken verloren. Rechnete man noch den gemeinnützigen und genossenschaftlichen Wohnungsbau mit ein, der ebenfalls geringe Einkommen bevorteilt, so werden Arbeit und Leistung gar zum Verlustgeschäft. Wer sich einsetzt, wird bestraft. Die einkommensabhängigen Tarife sind ein Hindernis für Frauen, verstärkt am Arbeitsmarkt teilzunehmen und Karriere zu machen. So wird das weibliche Potenzial wenig genutzt, obwohl die Frauen daran sind, die Männer in der Bildung zu überholen.

Das verbreitete Gefühl, um die Aufstiegschancen gebracht zu werden, hat einen realen Hintergrund. So kann sich die Mitte nur noch schwer nach unten abgrenzen, und der Weg nach oben wird ihr erschwert. Gerade der für den Mittelstand typische «kleine Aufstieg», das schrittweise und beharrliche Hinaufarbeiten, scheitert heute an der Abgabenlast und dem Verlust an Zuschüssen.

Ein nicht unwesentlicher Teil des Mittelstands hat sich in diese Verhältnisse gefügt, ein zunehmender Teil hat sich sogar recht behaglich darin eingerichtet. So werden die Energien zunehmend dafür verwendet, von staatlichen Leistungen zu profitieren, anstatt sie in Arbeit und Kreativität zu stecken. Man kann es ihm nicht verübeln, denn er reagiert einfach auf gesetzte Anreize. Ein wachstumskritischer Zeitgeist, der Bescheidung, Verzicht und das «Gesundschrumpfen» der Ansprüche predigt, legitimiert und bestätigt sie in dieser Haltung. Verbesserungsmöglichkeiten erblickt man am ehesten in einer weitergehenden Umverteilung.

Bei vielen Ambitionierten und Aufstiegswilligen im Mittelstand könnte dieser Trend in Ernüchterung und Resignation umschlagen. Der Erfolg der Schweiz und das Wachstum der Zukunft ruhen aber auf dieser Spezies Mensch. Und genau darin liegt das eigentliche Malaise des Schweizer Mittelstands.

Dieser Artikel erschien am 19. November 2012 in der «NZZ am Sonntag».