Bereits zwei Bundesräte und fünf Staatsekretäre mühten sich in den letzten zehn Jahren am Dossier Schweiz-EU ab, ein Ende ist nicht in Sicht. In dieser Zeit wurde viel Geschirr zerschlagen. Der Spielraum für Kompromisse scheint klein zu sein, und statt konkreter Fortschritte sind die bilateralen Beziehungen einem schleichenden Prozess der Erosion ausgesetzt.
Erstmals sichtbar wurde dies bei der Nichtgewährung der Börsenäquivalenz Mitte 2019, zuletzt aufgrund geänderter Prozesse für die Zertifizierung neuer Bahnwaggons. Als Folge davon können einzelne Kompositionen von Schweizer Bahnunternehmen bis zu einer Rezertifizierung unter EU-Recht nicht mehr im grenzüberschreitenden Verkehr eingesetzt werden. Ökonomisch stärker ins Gewicht fällt die Nicht-Äquivalenz im Bereich der Medizintechnikprodukte und der In-Vitro-Diagnostika. Obwohl die Schweiz ihre Vorschriften analog den revidierten EU-Rechtstexten aufdatierte, entschied Brüssel aus politischen Gründen, die formelle Äquivalenz zu verweigern. Unternehmen aus der Schweiz müssen seither einen zusätzlichen administrativen und oft auch zeitlichen Aufwand auf sich nehmen, um ihre Produkte weiterhin im EU-Binnenmarkt verkaufen zu können. Schätzungen gehen von einmaligen Anpassungskosten von rund 110 Mio. Fr. und jährlich wiederkehrenden Mehrkosten von mehr als 75 Mio. Fr. aus. Als nächstes folgen die Maschinen- sowie die Pharmaindustrie; aufgrund der hohen Bedeutung dieser beiden Branchen für den Industriestandort Schweiz dürften die Kosten die Milliardenschwelle übersteigen.
Kompensation durch Effizienzsteigerung
Medienberichte legen nahe, dass die Schweizer Industrie die zusätzlichen Marktzutrittshürden bisher gut gemeistert habe. Tatsächlich brachen in den betroffenen Branchen weder die Exporte in namhaftem Umfang ein, noch fanden signifikante Produktionsverlagerungen von der Schweiz in den EU-Raum statt. Dies hat mehrere Gründe: Primär antizipierte eine vorausschauende Unternehmensführung die Erosion und baute frühzeitig im EU-Raum die erforderlichen rechtlichen Strukturen auf. Denn der Entscheid des Bundesrates im Mai 2021, das Institutionelle Abkommen (InstA) abzulehnen, kam nicht unerwartet: Bern hinterliess nach Veröffentlichung des Vertrags ein Meinungsvakuum, das EU-kritische Kreise dankbar ausfüllten. Weiter dürfte eine Rolle spielen, dass viele exportorientierte Unternehmen in höhermargigen Segmenten positioniert sind. Die gestiegenen Marktzugangskosten dürften vielerorts die Gewinnspanne vermindern, ohne bereits an die Substanz zu gehen. Massnahmen zur Steigerung der Effizienz und Innovationen bieten Möglichkeiten, den Wettbewerbsnachteil zu kompensieren. Kommt hinzu, dass die höhere Inflation im Euroraum den hiesigen Herstellern hilft.
Wenig mediale Aufmerksamkeit
Hat die Erosion des bilateralen Verhältnisses zum wichtigsten Wirtschaftspartner der Schweiz also gar keine Folgen? Doch, denn die Schweiz leidet als Wirtschaftsstandort. Der Grund liegt im entgangenen potenziellen Wachstum. Unternehmen, die in der Schweiz produzieren, ihren Hauptabsatzmarkt im EU-Raum haben und wachsen, dürften es sich vermehrt überlegen, ihre Produktionskapazitäten statt in der Schweiz gleich direkt in der EU zu erweitern. Solche Entscheide erregen im Gegensatz zu Produktionsschliessungen kaum mediale Aufmerksamkeit und schlagen sich in keiner Statistik nieder. In der Summe schwächen sie aber das Wachstumspotenzial des Wirtschaftsstandortes Schweiz – was wachstums- wie auch immigrationskritischen Kreisen gefallen dürfte. Auf lange Sicht lässt sich damit der heutige Wohlstand in der Schweiz aber kaum aufrechterhalten.
Wirtschaftspolitisch erzeugt der seit einigen Jahren schleichende Prozess der Erosion zu wenig Druck, um beherzt das Ruder herumzureissen. Weder eine Annäherung an die EU – in welcher Form auch immer – noch substanzielle inländische Reformen zur Steigerung der Produktivität und damit letztlich der Wettbewerbsfähigkeit des Standortes scheinen Mehrheiten zu finden; erst recht nicht in einem Wahljahr. Die Schweiz blockiert sich weitgehend selbst.
Unheilige Allianz von Links, Rechts und Mitte
Zu vermuten ist, dass die Befürworter einer Wiederherstellung der bilateralen Verträge in Zukunft gar weniger werden. Die linke Ratsseite hat sich von der ehemals erfolgreichen europapolitischen Allianz de facto verabschiedet, seit gewerkschaftliche Kreise die Politik diktieren. Sie haben sich mit ihrem Anspruch eines absoluten und nicht verhandelbaren Lohnschutzes verrannt und können kaum mehr ohne Gesichtsverlust einer Lösung zustimmen, die ihre Forderungen nicht integral übernimmt. Rechtsaussen opponiert seit über dreissig Jahren gegen jegliche Annäherung an die EU, und in der politischen Mitte sehen es gewerbliche Kreise nicht ungern, wenn ihnen unliebsame Konkurrenz aus dem EU-Raum vom Leibe gehalten wird.
Auch von ausserhalb des Parlamentes ist kaum ein «Booster» zu erwarten. So warnten Vertreter von Hochschulen bislang vergeblich vor den langfristig negativen Folgen eines Schweizer Drittlandstatus bei Horizon Europe. Die frei allozierbaren Mittel der aktuellen Vergabeperiode des Forschungsprogrammes werden täglich geringer, ohne dass sich Schweizer Forschungsinstitutionen darum bewerben könnten. Die Sache ist faktisch gelaufen, eine Vollassoziierung scheint frühestens für die nächste Vergabeperiode eine Option.
Seit März 2022 führt der Bundesrat Sondierungsgespräche mit der EU über ein neues Abkommen. Bisher kam es zu neun Runden (Stand Mai 2023), wobei sich – zumindest von aussen betrachtet – die Schweizer- und die EU-Seite weder über den genauen Inhalt und das Ausmass einer neuen Vereinbarung einig sind noch über die Geschwindigkeit, mit der ein neuer Entwurf erarbeitet werden soll. Verbreitete der Bundesrat noch bis vor kurzem Optimismus, dass man in absehbarer Zeit eine neue vertragliche Grundlage findet, tritt er nun auf die Bremse und dämpft entsprechende Erwartungen.
Einigung ohne Zugeständnisse?
Die entscheidenden Fehler passierten vor Jahren. Dazu zwei Binsenwahrheiten über Verhandlungen: Erstens finden kaum je die Maximalforderungen nur einer Seite Eingang in den finalen Vertrag. Zweitens gehört es zu einer guten Strategie, dass man sich vor Abbruch der Verhandlung oder mit dem Entschluss zur Nichtunterzeichnung eines Vertrags im Klaren ist, was die Alternative zur gewünschten Übereinkunft ist. Sie sollte besser sein als das auf dem Tisch liegende Ergebnis. Die vom Bundesrat kommunikativ wenig geschickt definierten «roten Linien» für die Verhandlungen mit der EU (flankierende Massnahmen, Unionsbürgerrichtlinie, Sozialversicherungssysteme) über das InstA weckten bei einigen inländischen Interessenverbänden die Vorstellung, eine Einigung sei auch ohne helvetische Zugeständnisse in diesen Bereichen möglich. Entsprechend hoch waren die Erwartungen.
Mit dem Entscheid, das InstA nicht zu unterzeichnen, entschied sich der Bundesrat de facto für die Erosion als «Best Alternative To a Negotiated Agreement». Zumindest waren seit Vorliegen des Vertrags Ende 2018 weder der Bundesrat noch EU-Kritiker in der Lage, eine Alternative zum InstA vorzuschlagen, die im Inland Mehrheiten mobilisiert und bei der EU keine fundamentalen Widerstände produziert. Der helvetische Knoten konnte bislang nicht durchtrennt werden, derweil erodiert das bilaterale Vertragsverhältnis weiter.
Sich für den Standort Schweiz einzusetzen, heisst auch für möglichst hindernisfreie Zugänge zu den wichtigsten Exportmärkten zu kämpfen. Die Erosion ist schleichendes Gift für die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts.
Der Text ist eine erweiterte und aktualisierte Fassung eines im «Wirtschaftsflash – Das Magazin der Solothurner Wirtschaft, Ausgabe 2/23» erschienenen Beitrags.