Im vergangenen März begannen die Schweiz und die EU exploratorische Gespräche über die Machbarkeit und Wünschbarkeit eines Finanzdienstleistungsabkommens (FDLA), das schweizerischen Banken die Erbringung rechtlich abgesicherter und diskriminierungsfreier grenzüberschreitender Finanzdienstleistungen ermöglichen soll. Ende Januar wurde die Suspendierung dieser Gespräche bekanntgegeben – mit der Begründung, dass es noch viele offene Fragen in Bezug auf die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative und die institutionellen Beziehungen gäbe. Bedeutet dies einen Schlag gegen das Europageschäft der Schweizer Banken?
Stolperstein dynamischer Nachvollzug
Die EU ist für die Schweizer Banken ein bedeutender Markt. Gut 40% der für ausländische Kunden verwalteten Vermögen stammten 2013 aus der EU. Das Geschäftspotenzial ist besonders im Private Banking und im Asset Management gross. Wie im Avenir-Suisse-Buch «Bilateralismus – was sonst?» (S. 195 ff.) gezeigt wird, stehen aber der Nutzung dieses Potenzials beträchtliche Hindernisse entgegen. Sie würden mit einem FDLA teilweise aus dem Weg geräumt.
Dennoch hat die Suspendierung kein Nervenflattern bewirkt. Die Finanzindustrie sieht ein FDLA nämlich nur als langfristige Option. Ein Grund liegt darin, dass die Interessen innerhalb der Branche divergieren. Im Gegensatz zu den international tätigen Banken können sich die allein oder grösstenteils auf den Heimmarkt ausgerichteten Finanzinstitute für ein FDLA nicht erwärmen. Die unklare Interessenlage erschwert nicht nur einen Konsens, sondern auch die Verhandlungsposition der Schweiz.
Stark ins Gewicht fällt zudem, dass der dank einem FDLA verbesserte und rechtlich abgesicherte Marktzugang die Übernahme der gesamten EU-Finanzmarktgesetzgebung (sektorieller Finanzmarkt-Acquis) samt dynamischem Nachvollzug bedingen würde. Weil die EU noch keinen integrierten Finanzmarkt hat und unterschiedliche nationale Regulierungen immer noch eine wichtige Rolle spielen, ist der Endzustand der europäischen Finanzmarktverfassung unbekannt. Deshalb wäre der dynamische Nachvollzug problematisch. Dazu kommt, dass gewisse EU-Regelungen im Konsumenten-, Anleger- und Arbeitnehmerschutz die unternehmerische Freiheit stärker einschränken als es die entsprechende schweizerische Gesetzgebung tut. Das könnte nicht nur die Finanzdienstleister, sondern die ganze Volkswirtschaft viel kosten. Schliesslich würde sogar ein FDLA Übereinkünfte mit einzelnen EU-Mitgliedern nicht hinfällig machen, weil den EU-Staaten nach wie vor regulatorische Spielräume offen stehen.
Bilateraler Weg statt Finanzdienstleistungsabkommen
Angesichts der vielen offenen Fragen und der unklaren Konsequenzen eines FDLA für die Finanzindustrie und die Gesamtwirtschaft wird auf absehbare Zeit weiterhin der beschwerliche, zeitraubende und mit bürokratischem Aufwand verbundene Weg bilateraler Marktzutrittsabkommen mit einzelnen geschäftlich interessanten EU-Ländern eingeschlagen. Eine zweite Strategie liegt in der gegenseitigen Anerkennung der Marktzutrittsvoraussetzungen (Äquivalenz). Im Rahmen des Äquivalenzprinzips müssen Regelungen nicht gleich, sondern gleichwertig sein. Eine Marktzutrittsgarantie erhalten die Finanzinstitute allerdings nicht. Die Anerkennung der Gleichwertigkeit obliegt der EU-Kommission; das bedeutet politische Einflussnahme auf den Entscheid.
Die Suspendierung der Gespräche zwischen der Schweiz und der EU hat keine unmittelbaren Auswirkungen auf die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung der Finanzindustrie. Sie zeigt aber einmal mehr die harte Haltung, die die EU vor allem seit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative gegenüber der Schweiz einnimmt und steht im gleichen Kontext wie die Sistierung eines Stromabkommens, Restriktionen beim Zugang schweizerischer Unternehmen zu Forschungsprojekten und die kalten Schultern, die schweizerischen Behördenvertretern trotz aller Sympathiekundgebungen in Brüssel gezeigt werden. Ob sich daran nach dem Entscheid über die britische EU-Mitgliedschaft etwas ändern wird, muss bezweifelt werden.