Die in den letzten Tagen skandalisierende Medienberichterstattung rund um die sogenannten «Crypto-Leaks» darf den Blick auf das grosse Ganze nicht verstellen: Gerade im Hinblick auf eine strategisch weitsichtige Sicherheitspolitik lohnt es sich, sachlich zu bleiben. Zumal in jüngster Zeit die Bedrohungen für die Schweiz an Kontur gewonnen haben. Das Schweizer Aussendepartement konstatiert anwachsende internationale Spannungen. Die Grossmächte setzen ihre Interessen verstärkt mit Machtinstrumenten durch – dazu kommen die erhöhte Terrorgefahr, der vermehrte Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel zahlreicher Staaten und regionale Konflikte mit globalen Auswirkungen. All diese Entwicklungen werden nicht spurlos an der Schweiz vorbeigehen.
Verschiebungen in der ökonomischen Sphäre sind mitursächlich für diese Entwicklungen. Mit der Schwächung des Multilateralismus und dem wachsenden Einfluss Chinas auf der Weltbühne steht die globale Vormachtstellung der USA infrage. Zwar sind die Vereinigten Staaten nach wie vor mit Abstand die bedeutendste Wirtschaftsmacht: Sie erwirtschaften mit nur gerade vier Prozent der Weltbevölkerung einen Viertel der globalen Wertschöpfung und verantworten mehr als ein Drittel der weltweiten Rüstungsausgaben.
Liberale Weltordnung unter Druck
Doch in den vergangenen zwei Jahrzehnten ist Chinas Anteil an der Weltwirtschaft von sechs auf sechzehn Prozent gestiegen. Das Reich der Mitte ist heute der grösste Auslandinvestor. Chinas erklärtes Ziel lautet, bis Mitte des Jahrhunderts die globale Technologie- und Innovationsführerschaft zu übernehmen. Und nach den USA gibt China am zweitmeisten für das Militär aus, 2018 alleine 250 Milliarden US-Dollar. Auch die Handelsströme haben sich weg von den USA hin zu China verschoben. Um die Jahrtausendwende wiesen noch die meisten Länder ein grösseres Handelsvolumen mit den Vereinigten Staaten als mit China auf. Mittlerweile ist für die Mehrheit der Länder China der bedeutendere Handelspartner.
Die Rivalität zwischen den USA und China dominiert zunehmend die Schnittstellen zwischen Handel und Sicherheit. Offen sind die mittelfristigen handelspolitischen Auswirkungen für die Schweiz, die mit beiden Grossmächten wirtschaftlich eng verbunden ist. Führt der sich stetig intensivierende Konflikt zwischen den USA und China dazu, dass sich unser Land eines Tages für die eine und damit gegen die andere Seite entscheiden muss? Denn unabhängig von der innenpolitischen Polarisierung in Washington D. C. wird das Erstarken Chinas parteiübergreifend als die zentrale strategische Herausforderung für die USA aufgefasst. Entsprechend stärken die USA ihre sicherheitspolitischen Aktivitäten im asiatischen Raum.
Neben den Spannungen zwischen den USA und China markiert auf dem europäischen Kontinent Russland seine Machtansprüche. Die stark national-autoritär ausgerichtete Politik lehnt unsere liberale Ordnung westlicher Prägung ab. Mit einem BIP-Anteil von fast vier Prozent investiert Russland überdurchschnittlich viel ins Militär. Die Position des alten Kontinents und mittendrin auch der neutralen Schweiz steht damit sicherheitspolitisch vor einem neuen Kapitel. Zu sehr hat man sich während Jahrzehnten auf den Schutzschirm der Pax Americana verlassen.
Nicht mit einem Federstrich zur Seite gewischt werden kann die Kritik der US-Administration an den als ungenügend empfundenen Verteidigungsaufwendungen der europäischen Nato-Länder. Zugleich führt die weltweite Erstarkung autoritärer Tendenzen dazu, dass gerade die vom alten Kontinent vertretene liberale Weltordnung und damit auch rechtsstaatliche Prinzipien unter Druck geraten. Daneben ist eine wachsende Zahl nichtstaatlicher Akteure mit Möglichkeiten zur hybriden Kriegsführung zu beobachten. Sie akzentuieren die Sicherheitslage Europas. Diese neuen Sicherheitsrisiken machen auch vor der Schweizer Grenze nicht halt. Der Fokus wird sich vermehrt verschieben, weg von klassischen bewaffneten Konflikten mit anderen Staaten und hin zu Cyberrisiken, hybrider Kriegsführung und Terrorismus.
In dieser Welt des sicherheitspolitischen Wandels ringen Europa als Ganzes wie auch die Schweiz um ihren Platz. Durch die veränderte Ausgangslage wird der Druck auf die europäischen Demokratien steigen, mehr sicherheitspolitische Verantwortung wahrzunehmen. Dies bedingt aber eine stärkere transnationale Kooperation. Zwar sind alle EU-Länder zusammen nach den USA die Region mit den höchsten Verteidigungsausgaben. Doch werden jedes Jahr mehr als 26 Milliarden Euro aufgrund von Überkapazitäten, Doppelspurigkeiten und Hindernissen bei der Beschaffung innerhalb Europas verschwendet. Die europäischen Länder kämpfen letztlich weniger mit einem Mangel an Sicherheitsressourcen als mit organisatorischen und sicherheitspolitischen Ineffizienzen.
Dazu verfolgen die einzelnen Länder abhängig von ihrer geografischen Lage unterschiedliche Interessen. Italien richtet sein Augenmerk auf Nordafrika und die Frage, wie dem Migrationsstrom wirksam entgegengetreten werden kann, dagegen befürchten osteuropäische Länder wie Polen und Lettland russische Machtansprüche, wie sie in der Ukraine vorexerziert wurden. Und Frankreich strebt, nachdem es die Nato für «hirntot» erklärt hat, im Zuge des Brexits eine europäische Sicherheitsordnung an, selbstverständlich unter der Führung der Grande Nation.
Dem alten Kontinent fehlt offensichtlich eine klare sicherheitspolitische Strategie, die von den europäischen Ländern breit mitgetragen wird. Dies ist kein neues Phänomen, es prägt die Geschichte der europäischen Integration seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Doch die enge wirtschaftliche Verflechtung im Binnenmarkt ist keine dauerhafte Sicherheitsgarantie mehr im Zeitalter von territorialen Annexionen, militärischem Säbelrasseln der Grossmächte sowie terroristischen Attentaten in Paris, London, Berlin oder Brüssel.
Die Schweiz ist gefordert
Der strategische Fokus ist auch in der Schweizer Sicherheitspolitik zu schärfen. Als kleines Land mitten in Europa und Nicht-Nato-Mitglied ist die eigene nationale Sicherheit aufgrund der veränderten Bedrohungslage mit abhängig von der Weiterentwicklung der transnationalen Sicherheit auf dem Kontinent. Mit einem militärischen Mandat allein wird man der heutigen Bedrohungslage nicht mehr begegnen können. Ein umfassenderer Ansatz ist angebracht, mit dem Zusammenspiel politischer, diplomatischer, ökonomischer, ziviler und militärischer Sicherheitsinstrumente. Der aktuelle sicherheitspolitische Bericht des Bundes trägt dem zu wenig Rechnung.
Notwendig ist eine Strategie, die, aufbauend auf der systematischen Bedrohungsanalyse, Risiken und Massnahmen priorisiert und politische Kostentransparenz herstellt. Dies würde eine faktenbasiertere Diskussion über das transnationale Engagement der Schweiz ermöglichen und aufzeigen, wo sich Helvetia proaktiver für die kollektive Sicherheit auf dem europäischen Kontinent einbringen sollte. Nur so kann über eine ganzheitliche schweizerische Sicherheitsarchitektur öffentlich debattiert und die Frage beantwortet werden, welche Massnahmen sich am effektivsten dazu eignen, den realen Bedrohungen für die Schweiz wirksam zu begegnen.
Aufgrund der geänderten geostrategischen Vorzeichen wird es der Schweiz auf Dauer nicht möglich sein, sich ohne vertiefte transnationale Kooperationen zu schützen. Unsere traditionellen direktdemokratischen Auseinandersetzungen um das Ausmass an notwendigen Investitionen in militärische Hardware (derzeit: Kampfflugzeugerneuerung) sollten ergänzt werden um die Diskussion über den Ausbau im Bereich der militärischen Software. Dem Souverän ist eine umfassende Meinungsbildung zu ermöglichen. Um von der geistigen Landesverteidigung geprägte Zerrbilder korrekt einzuordnen, brauchte es zugleich mehr Transparenz über die bereits existierende vielfältige transnationale Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen bei den zivilen, nachrichtendienstlichen und polizeilichen Tätigkeiten, ohne die die verschiedenen Bedrohungslagen nicht bewältigt werden können.
Auch als neutraler Staat sollte die Schweiz zukünftig Rüstungsbeschaffungen vermehrt transnational angehen. Ein Ausbau des nach wie vor bescheidenen Engagements in militärischen Friedensmissionen würde nicht nur dem helvetischen Neutralitätsanspruch zugutekommen, sondern auch die Interoperabilität des Schweizer Militärs stärken. Wie vom Bundesrat in seiner neuen aussenpolitischen Strategie angedacht, sollte sich die Schweiz verstärkt als Sicherheits- und Governance-Hub etablieren. «Genève internationale» ist prädestiniert für eine Vorreiterrolle und könnte weltweit Normen und Standards vorgeben. Mit einer klareren sicherheitspolitischen Weichenstellung könnte die Schweiz ihre Stärken auf dem internationalen Parkett vermehrt einbringen. Am besten garantiert die Schweiz ihre eigene nationale Sicherheit, wenn sie ihren Beitrag zur kollektiven Sicherheit in Europa leistet.
Dieser Beitrag ist am 20. Februar 2020 in der NZZ erschienen.