Die Covid19-Pandemie führte zur grössten militärischen Mobilmachung seit dem Zweiten Weltkrieg. Mit rund 5000 Soldatinnen und Soldaten entlastete die Armee die zivilen Behörden mit Leistungen für das Gesundheitswesen, den Schutz und die Logistik (VBS 2020a).

Der Corona-Einsatz der Armee hat dabei altbekannte sicherheitspolitische Meinungsfronten rund um die militärische Landesverteidigung und den zivilen Bevölkerungsschutz aufgerissen (Häsler 2020). Die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) und Teile der Sozialdemokraten (SP) sehen in der Corona-Bedrohung bestätigt, dass heutige Risiken primär ziviler Natur seien und deshalb in Zukunft der Bevölkerungsschutz und der Zivildienst sicherheitspolitisch priorisiert werden müssten. Hingegen sehen Armeebefürworter im Corona-Einsatz die Schweizer Armee legitimiert und argumentieren, dass der Zivildienst eine ergänzende Rolle spiele. Nur die Armee sei in der Lage, die nötigen Reserven aufzubauen und während sieben Tagen und 24 Stunden im Einsatz zu sein. Sicherheitspolitik müsse eine ganze Bandbreite von möglichen Bedrohungen berücksichtigen und die Armee dementsprechend das ganze Spektrum abdecken. Hintergrund dieser politischen Debatten sind die tagesaktuellen sicherheitspolitischen Geschäfte rund um das Kampfjet-Referendum und die Revision des Zivildienstgesetzes.

Die strategische Priorisierung von Sicherheitsinstrumenten ist wichtig, sollte aber mit Weitsicht geführt werden. Es wäre unangemessen, die Gunst der Stunde für tagesaktuelle Geschäfte zu instrumentalisieren, ohne die längst fälligen sicherheitspolitischen Reformen anzupacken.

Es braucht eine strategische Sicherheitspolitik, die auf Basis einer Lagebeurteilung Ressourcen- und Kompetenzfragen klärt. Dazu gehört auch der Gesundheitsbereich. Innere und äussere Sicherheit müssen genauso in die strategische Analyse einfliessen wie integrierte zivile, militärische und diplomatische Massnahmen. Der Wandel der Bedrohungslage gilt als strategischer Wegweiser – hin zu einer transnationalen Schweizer Sicherheitspolitik.

Der Wandel der Bedrohungslage

Die Risikoanalyse des Bundesamts für Bevölkerungsschutz kam bereits 2015 zur Erkenntnis, dass eine Strommangellage und eine Pandemie die kostspieligsten und wahrscheinlichsten Bedrohungen sind. Ausserdem konstatierte die neue Armeebotschaft vom 19. Februar 2020, knapp einen Monat, bevor Covid-19 von der WHO zur Pandemie erklärt wurde, es sei äusserst unwahrscheinlich, dass die Schweiz Opfer eines konventionellen militärischen Angriffes werde. Die Sicherheit der Schweiz werde primär durch transnationale Risiken wie Cyber- und Terrorbedrohungen herausgefordert (VBS 2020b).

Angesichts aktueller globaler gesundheitlicher Sicherheitsrisiken wie dem Coronavirus mag eine Bedrohungsanalyse, die konventionelle, militärische Konflikte auf Schweizer Boden relativiert, trivial erscheinen. Jedoch ist eine Bedrohungsanalyse nötiger denn je. Denn es braucht eine systematischere Lagebeurteilung, um die sicherheitspolitische Strategie auszubauen.

Die Schweiz ist umgeben von Nato-Ländern und dem ebenfalls neutralen Österreich. Als kleines Land inmitten von Europa war die nationale Sicherheit aufgrund der geänderten Bedrohungslage schon lange vor Corona abhängig von der transnationalen Sicherheit auf dem Kontinent (Lago & Schnell 2020). Die folgende Tabelle zeigt die geänderte Bedrohungslage für die Schweiz auf: Der Kalte Krieg ist vorbei, und mit ihm die glaubwürdigste Wahrscheinlichkeit für einen konventionellen militärischen Konflikt auf Schweizer Boden. Gleichzeitig erodiert die multilaterale Weltordnung. Cyber- und Terrorbedrohungen nehmen zu und relativieren die Territorialität von Sicherheitsrisiken.

Tabelle 1: Wandel der Bedrohungslage hin zu transnationalen Sicherheitsrisiken
1947-19892001-20192019-?
PhaseDer Kalte Krieg
Krieg gegen den TerrorNeue Technologien und hybride Konfliktführung
Worst-case SzenarioBewaffnete, zwischenstaatliche Konflikte, Proliferation von Atomwaffen


Terroristischer Angriff mit Massenvernichtungswaffen, Verbreitung von Atomwaffen, gescheiterte Staaten in Besitz von AtomwaffenEnde des multilateralen Systems, autonome Atomwaffensysteme
Akteure
StaatenStaaten und nichtstaatliche AkteureStaaten und nichtstaatliche Akteure, Tech-Industrie
Geänderte BedrohungslageKalter Krieg, Ost-West-Konfrontation, die Gefahr eines konventionellen Krieges mit der SowjetunionNeue Risiken: Terroranschläge und innerstaatliche KonflikteCyber-Angriffe, nachrichtendienstliche Aktivitäten, zunehmende terroristische Bedrohung, organisierte internationale Kriminalität
Sicherheitspolitische MassnahmenOst-West-Blockbildung, militärische Massnahmen im Hinblick auf konventionelle, bewaffnete Kriege. Boden-Luft-Verteidigung, konzipiert für einen Krieg mit der SowjetunionKonventionelle militärische Massnahmen. Ergänzt durch einen integrierten Ansatz: Zusammenspiel von politischen, diplomatischen, wirtschaftlichen, polizeilichen und militärischen MassnahmenErhöhte Sicherheitskomplexität verlangt nach einem noch stärker integrierten Ansatz und nach transnationaler Zusammenarbeit
Quellen : Lago & Schnell (2020), NDB (2019), Bundesrat (2016)

Der amerikanische Schutzschirm über Europa wird brüchiger. Der Druck auf die europäischen Demokratien wird steigen, mehr sicherheitspolitische Verantwortung wahrzunehmen. Dies bedingt eine stärkere transnationale Kooperation (Grünenfelder & Lago 2020). Zwar sind alle EU-Länder zusammen nach den USA die Region mit den höchsten Verteidigungsausgaben. Doch werden jedes Jahr mehr als 26 Milliarden Euro aufgrund von Überkapazitäten, Doppelspurigkeiten und Hindernissen bei der Beschaffung innerhalb Europas verschwendet (Europäisches Parlament 2019). Die europäischen Länder kämpfen letztlich weniger mit einem Mangel an Sicherheitsressourcen als mit organisatorischen und sicherheitspolitischen Ineffizienzen.

Die Schweiz bildet hier keine Ausnahme. Wie Tabelle 1 aufzeigt, ist Helvetia aufgrund der geänderten Bedrohungslage abhängig von der transnationalen Sicherheit auf dem Kontinent. Ausserdem sollte auch die Schweiz ihren strategischen Fokus schärfen, um die Sicherheitspolitik effizienter zu gestalten.

Lückenhaftes Sicherheitsdispositiv in Europa und ein brüchiger amerikanischer Schutzschirm. (Konstantin Planinski, Unsplash)

Die Bedrohung lauert im Ungewissen

Wieweit soll sich die Schweiz, gegeben die geänderte Bedrohungslage, vollkommen autonom verteidigen können? Was sind Kosten und Nutzen einzelner sicherheitspolitischer Instrumente und Massnahmen? Um solche Fragen umfassend beantworten zu können, sollte der Bund zukünftige Lagebeurteilungen systematischer erstellen und in eine langfristige Sicherheitsstrategie münden lassen.

Der Corona-Einsatz der Armee entfachte die sicherheitspolitische Richtungsdebatte zwischen den militärischen und den zivilen Sicherheitsinstrumenten. Die öffentliche Meinungsbildung braucht tatsächlich mehr strategische Ressourcentransparenz, jedoch eine weitsichtige, die über die Beschaffung von Kampfflugzeugen und ein gegenseitiges Ausspielen von Zivil- und Militärdienst hinausgeht. Der aktuelle sicherheitspolitische Bericht des Bundesrates aus dem Jahre 2016 hat keine solche Ressourcentransparenz hergestellt. Es bleibt intransparent, ob der beschriebene Wandel der Bedrohungslage mehr oder weniger Kooperation, Selbständigkeit oder Engagement bräuchte und inwiefern es bezüglich der Ressourcen neue Akzente benötigt (Wenger & Nünlist 2017).

Das VBS, federführend beim Erstellen des sicherheitspolitischen Berichtes, konstatiert, dass es eine politische Herausforderung sei, die Sicherheitsberichte strategischer zu formulieren, weil die Ankündigung von neuer und langfristiger Politik von den Parlamentariern stets kontrovers aufgenommen würde (CSS Bulletin 2019).

Jedoch sind sachliche Diskussionen über die strategische Zukunft unserer Sicherheit wünschenswert, trotz oder gerade weil sie so kontrovers sind. Dabei darf der sicherheitspolitische Diskurs weder Réduitromantikern noch Armeeabschaffern überlassen werden.

Eine kostentransparente, bedarfsbasierte sicherheitspolitische Strategie hat auch eine wichtige Legitimationsfunktion. Wenn nicht im Detail ersichtlich ist, weshalb und wofür staatliche Institutionen öffentliche Gelder ausgeben, dann leidet die Legitimität.

Sicherheitspolitischer Reformbedarf

  • Die Schweiz braucht in Zukunft eine Sicherheitspolitische Strategie, die – aufbauend auf der systematischen Bedrohungsanalyse – Risiken und Massnahmen priorisiert und politische Kostentransparenz herstellt. Zukünftige sicherheitspolitische Berichte sollen dies gewährleisten und beispielsweise Sinn und Zweck der eigenen Politik im transnationalen Kontext darlegen, um daraus den Anspruch an die sicherheitspolitischen Instrumente abzuleiten.
  • Wichtig ist hierbei ein ganzheitlicher sicherheitspolitischer Ansatz. Innere und äussere Sicherheit müssen genauso in die strategische Analyse einfliessen wie integrierte zivile, militärische und diplomatische Massnahmen. Eine effiziente Sicherheitspolitik soll unter anderem bedarfsgerecht einordnen, wie transnationale militärische Kooperation über die Friedensförderung hinaus zu verbesserter Interoperabilität und damit zu einer autonomen Verteidigung beitragen kann. Dabei gilt es neben der militärischen die polizeiliche und nachrichtendienstliche Kooperation genauso zu berücksichtigen wie die multilaterale Zusammenarbeit innerhalb der WHO, der EU, der OECD und der Uno.
  • Allfällige Ressourcenumverteilungen zwischen sicherheitspolitischen Instrumenten sind bedarfsgerecht vorzunehmen, um die Sicherheitspolitik ökonomischer zu gestalten. Die Ressourcenumverteilung muss dabei nicht zwingend finanzieller Natur sein. Die Durchlässigkeit zwischen Militär und Bevölkerungsschutz, die Kooperationsfähigkeit zwischen sicherheitspolitischen Instrumenten und die Art und Weise der Ausgestaltung der Milizdienste (Stichwort Bürgerdienst) vermögen die Schweizer Sicherheitsinstitutionen effizienter und moderner zu gestalten. Damit würde ausserdem den unfruchtbaren Debatten, die zuweilen das Militär gegen den Zivildienst ausspielen, der Wind aus den Segeln genommen. Anstatt den Zugang zu den zivilen Instrumenten zu erschweren, sollte mit politischer Weitsicht der gesamte Milizdienst attraktiver gestaltet werden.

Dieser Beitrag ist am 2. Juli 2020 in der «Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift» erschienen.