«Wir beziehen uns heute stark auf andere»: Nicht so sehr, was ich selber denke und bin, sondern was andere über mich denken, prägt gemäss Prof. Heinz Bude das Selbstbild in der modernen Gesellschaft. Der deutsche Soziologe (Hamburger Institut für Sozialforschung und Universität Kassel) und Autor des Buches «Gesellschaft der Angst» erläuterte an einer Mittagsveranstaltung bei Avenir Suisse, warum diese Fremdbezogenheit eine grosse Quelle der Angst der heutigen Gesellschaft sei. Soziale Beziehungen seien heute – anders als in der Vergangenheit, wo ein Leben vielfach bereits durch die Geburt vorgezeichnet war – kündbar, die so wichtige Wahrnehmung der eigenen Person durch andere nur bedingt kontrollierbar. Man denke nur daran, wie viel Zeit und Aufwand Jugendliche in einen perfektionierten Facebook-Auftritt stecken können – und wie gross ihre Verletzlichkeit ist, wenn dieser nicht wie erhofft gut ankommt. Auf ihre Aussenwirkung fokussierte Menschen sind gemäss Bude zwar teamfähig und kompromissbereit, aber sie haben die Steuerung des Selbstbildes aus der Hand gegeben. Die moderne Optionsgesellschaft bietet zwar vom Joghurt im Supermarkt über die Berufswahl bis zur Form des Zusammenlebens unendlich viele Optionen. Doch jede Wahl stehe immer auch unter der Dialektik der Wahl: «Ich muss wählen – und ich muss gewählt werden». Diese Aussenorientierung stehe im Widerspruch zum Streben der meisten Menschen nach stabilen Bindungen.

Bindungen als Thema

Warum tut sich der Liberalismus in der modernen Gesellschaft so schwer? Bietet die Multioptionsgesellschaft nicht vieles von dem, wofür sich Liberale jahrzehntelang eingesetzt haben: Wahlmöglichkeiten und Grundrechte? Für Bude ist der Liberalismus ein Elitemodell von und für autonome Individuen, aber nur bedingt anwendbar in einer Welt der systemischen Verflechtung. Die Realität habe oft wenig mit rationalen Entscheiden eines Individuums zu tun, sondern mit Kompromissen und mit Fragen der Vereinbarkeit, etwa von Beruf und Familie. Es sei die dritte Dimension, die Bedeutung von stabilen Bindungen, auf die der Liberalismus heute eine Antwort finden müsse. Bude verweist auf Umfragen bei 20- bis 30-Jährigen, aus denen weltweit «Freundschaft» als wichtigster Wert dieser Generation hervorgehe. «Liberale haben es verpasst, Bindungen zu ihrem Thema zu machen». Dabei gehe es eben gerade nicht mehr nur um familiäre Bindungen, sondern um Freundschaften und um andere optionale Bindungen. Bude zählt auch die verbreitete Angst des Mittelstandes vor dem sozialen Abstieg dazu, die auch Avenir Suisse in «Der strapazierte Mittelstand» (2012) diagnostizierte. Anders gesagt: Wer in der heutigen Zeit von Wettbewerb und Wahlfreiheit rede, übergehe zentrale Ängste der Menschen. Bereits Franklin D. Roosevelt habe erkannt, dass in der Politik nicht gewählt wird, wer Probleme effizient löst, sondern wer den Menschen ihre Ängste nimmt.

Brown-Bag-Lunch bei Avenir Suisse mit Prof. Heinz Bude, Autor von "Gesellschaft der Angst"

Auf ihre Aussenwirkung fokussierte Menschen haben gemäss Prof. Heinz Bude die Steuerung des Selbstbildes aus der Hand gegeben. (Bild: Fotolia)

Heikles Terrain für die Politik

Doch soll sich die Politik wirklich das Bindungsbedürfnis der Bürger zum Thema machen? Das sei eine heikle Gratwanderung, denn die Gefahr sei gross, dass Demagogen und Populisten dieses Feld eroberten. So könnte etwa ein neuer Nationalismus das Vakuum besetzen, das der Wegfall der einst als zu eng empfundenen familiären oder religiösen Bande hinterliess.

Eine Revitalisierung stabiler Bindungen könnte die Alterung der Babyboomer-Generation mit sich bringen, besonders deren Bedürfnisse nach Pflege und einem Altern und Sterben in Würde. Ob dies vorwiegend über eine weitere Ausweitung des Sozialstaates oder über private Initiativen geschehen sollte, liess Bude offen. Für ein Engagement der Politik spreche, dass die soziale Wohlfahrt von der heutigen Gesellschaft nebst den bürgerlichen Freiheitsrechten und dem Wahlrecht gemeinhin als drittes Grundrecht angesehen werde. Diese Entwicklung sei auch in den Schwellenmärkten zu beobachten. Bude bestätigte auf kritische Nachfrage aus dem Publikum, dass die Finanzierbarkeit dieses neu hinzugewonnenen «Rechtes auf soziale Wohlfahrt» keineswegs gelöst sei. Dazu brauche es wohl, so Avenir-Suisse-Direktor Gerhard Schwarz, «die Soziologie für das Verständnis und die Ökonomie für bezahlbare Lösungen».