«Einkommensverteilung» und die «Ungleichheit» haben in letzter Zeit in der Diskussion an Bedeutung gewonnen. Den meisten Debatten zu diesen Themen haftet jedoch etwas Statisches an. Oft wird ausgeblendet, dass jene, die in einem bestimmten Jahr zu den Ärmsten zählen, zehn Jahre später vielleicht zum Mittelstand gehören und dass umgekehrt einige Reiche im gleichen Zeitraum finanziell abgestiegen sind. Während ungleiche Verteilungen von Einkommen und Vermögen daher höchst unterschiedlich beurteilt werden, sind sich die Ökonomen in einem ausnahmsweise einig: Wenn Auf- und Abstieg, also soziale Mobilität, erschwert ist, somit Ungleichheit über Generationen «weitergegeben» wird, ist die Chancengerechtigkeit als wichtiger Anker einer liberalen Gesellschaft bedroht.

Ein publizistischer Coup

Alan Krueger von der Princeton University hat sich diese Einsicht zunutze gemacht, und aus dem (statistischen) Zusammenhang zwischen Ungleichheit und sozialer Mobilität flugs die politische Forderung abgeleitet, man müsse Ungleichheit verringern, um soziale Mobilität zu erhöhen. Sie findet sich auch im «Economic Report of the President» 2012 zuhanden des US-Kongresses. Mit der Bezeichnung «Great Gatsby Curve» gelang Krueger zugleich ein publizistischer Coup. Die Anspielung auf den jungen Aufsteiger Jay Gatsby im Roman «Der grosse Gatsby» von F. Scott Fitzgerald aus dem Jahre 1925 passt zwar eigentlich nicht zu seiner Botschaft, aber sie half zweifellos mit, die aus der «Kurve» abgeleitete Forderung in Windeseile zu verbreiten.

Die «Gatsby-Kurve», die auf Miles Corak von der University of Ottawa zurückgeht, zeigt in der Tat für ausgewählte Länder, darunter die Schweiz, einen starken Zusammenhang zwischen Verteilung und Mobilität von Einkommen. So ist die Mobilität in Ländern mit hoher Gleichheit wie Norwegen, Finnland, Dänemark und Kanada am grössten. Nicht einmal 20% des Einkommens des Sohnes werden dort durch das Einkommen des Vaters erklärt.

Auf der Horizontalen ist die Verteilung der verfügbaren Haushalteinkommen (nach Steuern) anhand des Gini-Koeffizienten abgetragen. Je höher der Wert, desto ungleicher die Einkommensverteilung im jeweiligen Land. Dass es sich um Werte von 1985 handelt, hat seinen Grund: Krueger wollte zeigen, dass sich die Ungleichheit zu einem bestimmten Zeitpunkt Jahrzehnte später negativ auf die soziale Mobilität auswirke. Wenn dem so wäre, würde das Streben nach Gleichheit der Einkommen zur Grundlage späterer Chancengleichheit und könnte nicht mehr als Ausfluss von Neid diskreditiert werden. Auf der Vertikalen lässt sich ablesen, wie stark das Einkommen eines erwachsenen Sohnes mit dem des Vaters korreliert. Je höher der Wert, desto geringer die soziale Mobilität. Ein Lesebeispiel: 46% für die Schweiz bedeuten, dass ein Sohn, dessen Vater doppelt so viel verdient wie ein anderer Vater derselben Generation, im Durchschnitt 46% mehr verdient als der Sohn des anderen Vaters. Der Wert ist das Mittel der wesentlich höheren sozialen Mobilität unter geborenen Schweizern (38%) und der tieferen Mobilität unter Zugewanderten (55%).

Mehr als dies lässt sich aus der Grafik kaum ableiten; es trotzdem zu tun, grenzt an intellektuelle Unredlichkeit. Warum? Da ist, erstens, das Prinzip, dass Korrelationen keineswegs Kausalitäten zum Ausdruck bringen müssen. Ob Ungleichheit heute und geringe Mobilität morgen ursächlich miteinander zusammenhängen, ist ungewiss. Zweitens können Korrelationen durch eine gemeinsame, dritte Ursache beeinflusst werden. So kommen viele Untersuchungen zur sozialen Mobilität zum Schluss, dass Bildung entscheidend ist. Auch Familienverhältnisse oder nationale Mentalität und Kultur können eine Rolle spielen. Selbst wenn aber, drittens, die Beziehung zwischen Ungleichheit und Mobilität kausal wäre, weiss man nicht um Ursache und Wirkung. Grosse Mobilität könnte ja auch zum Ausgleich der Einkommen beitragen.

Aufgeblasene Banalitäten

Zu diesen grundsätzlichen Überlegungen kommen weitere Kritikpunkte. Der Ökonom Greg Mankiw hält die Korrelation für geradezu banal, weil es bei weit auseinanderliegenden Einkommen viel schwieriger sei, sich zu verbessern, als in einer egalitären Gesellschaft, wo kleinste Veränderungen bereits zu Auf- und Abstiegen führen können. Ein weiterer Einwand lautet, in der relativen Analyse des Zusammenhangs gehe das absolute Wohlstandsniveau vergessen. Ferner haben mehrere Studien gezeigt, dass sich etwa in den USA die Mobilität in den letzten Jahrzehnten kaum verändert hat, was den Überlegungen von Krueger widerspricht. Schliesslich werden ganz generell die verwendeten Zahlen und ihre Aussagekraft kritisiert.

Schiebt man diesen letzteren Vorwurf beiseite, bleibt zumindest dies: Die Schweiz bewegt sich bei der sozialen Mobilität im oberen Mittelfeld, etwa auf gleicher Höhe wie die USA. Und zu glauben, mittels Umverteilung könne man die soziale Mobilität stärken, ist ein Trugschluss, allerdings ein, wenn man um die Hintergründe weiss, vermutlich aus ideologischen Gründen bewusst herbeigeführter Trugschluss.

Dieser Artikel erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 29.11.2014.
Mit freundlicher Genehmigung der «Neuen Zürcher Zeitung».