Die Präsidenten der sechs grössten Schweizer Parteien haben in einem Brief an den Bundesrat gefordert, die Grenzkontrollen zur Bekämpfung der Pandemie wieder einzuführen. Sie schlagen u.a. vor, Grenzgänger in Screening-Kampagnen von Unternehmen regelmässigen Covid-19-Schnelltests zu unterziehen.

Systemisch wichtige Grenzarbeiten in sieben Grenzkantonen

Die Parteichefs spezifizieren selbstverständlich nicht, wie ein solcher Vorschlag umgesetzt werden sollte – oder wer die Rechnung bezahlen würde. Doch die Zahlen lassen aufhorchen: in der Schweiz gibt es fast 350’000 Grenzgänger. Laut Statistik entspricht es zwar nur 6% der Schweizer Arbeitnehmerschaft (2017), doch die Kantone sind dabei unterschiedlich stark betroffen. Drei Viertel der Grenzgänger konzentrieren sich in nur sechs Kantonen: Aargau, Basel-Stadt, Baselland, Genf, Waadt und Tessin.

Genf und das Tessin sind in dieser Hinsicht extreme Beispiele: In diesen Kantonen lebt jeder vierte Arbeitnehmer jenseits der Schweizer Grenze. Insgesamt gibt es sieben Grenzkantone, in denen Pendler aus dem Ausland mehr als 10% der Arbeitnehmenden ausmachen und damit für deren Volkswirtschaften von systemischer Bedeutung sind: Die beiden Basel, Genf, Jura, Neuenburg, Tessin und Schaffhausen. Die Branchen in diesen Kantonen erwirtschaften – mit Hilfe der Grenzgänger – 55% der Schweizer Exporte.

Grenzgänger sind besonders zahlreich in Branchen, in denen Homeoffice nur schwer umsetzbar ist: Zwei Drittel arbeiten in der Industrie, während durchschnittlich nur ein Viertel der Schweizer in diesem Sektor tätig ist. Sowohl in Basel als auch im Jura ist jeder vierte Beschäftigte im Industriesektor ein Grenzgänger, in Genf ist es ein Drittel und im Tessin fast die Hälfte (vgl. Abbildung).

Puls der Schweiz im Rhythmus der Grenzgänger

Der Vorschlag der Parteipräsidenten ist kurzsichtig und würde wirtschaftlich erhebliche Schäden hervorrufen. Die aktuelle Pandemie schafft für die Schweizer Unternehmen ohnehin unzählige Probleme. In dieser ausserordentlichen Situation sollte nicht noch das Arbeitsvolumen der Grenzgänger regulativ eingeengt werden – auch weil sie vorab in jenen Branchen arbeiten, die bedeutend für die Schweizer Wertschöpfung sind.

Im Zusammenhang mit der Pandemie wurde den Grenzgängern im Gesundheitswesen viel Aufmerksamkeit geschenkt. Der Anteil von Beschäftigten im Schweizer Gesundheitswesen umfasst jedoch gerade einmal 4% aller Grenzgänger. Das ist bescheiden im Vergleich zu anderen Branchen, die das wirtschaftliche Rückgrat unseres Landes bilden: In der Pharma-, der Uhren- und Elektronikindustrie sind 16% der Arbeitnehmer Grenzgänger. Den Rekord hält die chemische Industrie mit fast 30% im Ausland lebender Belegschaft.

In den Grenzkantonen akzentuiert sich die Situation: Während schweizweit nur 7% der Beschäftigten im Detailhandel Grenzgänger sind, steigt dieser Anteil im Tessin, in Genf und im Jura auf ein Drittel.

Aargauer an der Zürcher Grenze kontrollieren?

Die Wirtschaftsräume mit ihren Einwohnern und Ökosystemen sind selten kongruent mit den Landesgrenzen. Funktional sind die beiden Basel mit dem benachbarten Frankreich ebenso gut vernetzt wie der Kanton Zürich mit dem Aargau oder dem Kanton Thurgau. Sollen alle 140’000 Nicht-Zürcher kontrolliert werden, die jeden Tag zur Arbeit in den Kanton pendeln? Sind sie für die Ausbreitung der Viren nicht ebenso ein Risiko wie ihre deutschen Kollegen?

Obwohl sich die geltenden Schutzmassnahmen im Thurgau von denen in Konstanz unterscheiden, sind die epidemiologische Realität und die Logik der Mobilität genau dieselben. Wo immer möglich, soll und muss Homeoffice gefördert werden. Dank der Vereinbarungen der Schweiz mit ihren Nachbarstaaten können Grenzgänger ohne Anpassung von steuerlichen oder rechtlichen Regelungen im Homeoffice arbeiten. Grenzgänger, die dennoch in die Schweiz pendeln, tun dies also, weil sie keine andere Wahl haben.

Statt einseitige Massnahmen zu ergreifen, mit der die Wirtschaft in sieben Kantonen erstickt würde, die mehr als die Hälfte der Schweizer Exporte erwirtschaften, wäre mehr Koordination mit den Grenzregionen und -ländern gefragt.