Als Ende letzten Jahres eine akribisch recherchierte Studie von zwei Beamten der US-Finanzverwaltung die These des Starökonoms Thomas Piketty widerlegte, wonach die Ungleichheit in den USA in den letzten Jahrzehnten stets zugenommen habe, war das Aufsehen gross. Dass Piketty und seine Co-Autoren mit einer schwachen und eher herablassenden Replik reagierten, dient ihrer Position nicht. Nun muss ihr Ungleichheitsdogma, das auch die hiesige politische Diskussion beeinflusste, hinterfragt werden.
Wer sich intensiver mit der Messung der Ungleichheit auseinandersetzt, wusste es bereits: Die Einkommenssteuerdaten, die Piketty für seine Publikationen erstmals herangezogen hatte, wurden nicht zu Analysezwecken gesammelt, sondern um die Steuerschuld zu berechnen. Es braucht ein hohes Mass an «Datenveredlung», um daraus gesicherte Erkenntnisse zu Ungleichheit und Umverteilung zu gewinnen. So geht mit der wachsenden Bedeutung der privaten Vorsorge immer mehr Geld an der Einkommenssteuer vorbei. Wann diese Kapitalerträge angerechnet werden, liegt weitgehend im Ermessen der Forscher. Je nach Annahme ändert sich aber die ausgewiesene Ungleichheit stark.
Wer sich zudem ein vollständiges Bild der Ungleichheit machen will, muss auch schätzen können, wie umverteilend das Steuersystem wirkt. Doch wer trägt die Last der Steuern wirklich? Bei der Einkommenssteuer ist die Antwort eindeutig, bei vielen anderen Abgaben hingegen weitaus weniger. Wie die Hundesteuer nicht von den Hunden entrichtet wird, zahlen nicht die Unternehmen die Unternehmenssteuern. Die Inzidenz verteilt sich auf Aktionäre, Konsumenten (durch höhere Preise) und Arbeitnehmer (in Form niedrigerer Löhne). Zusammenfassend legen die neusten Forschungsergebnisse nahe, dass die Progression im amerikanischen Steuer- und Leistungssystem in den letzten 30 Jahren deutlich steiler geworden ist, als von Piketty und Co. immer wieder behauptet.
In der Schweiz tappen die Ungleichheitsforscher wenn nicht gerade im Dunkeln, so zumindest im Halbschatten. Trotz diesen Einschränkungen herrscht ein relativ klarer Konsens: Von einer sich stetig öffnenden Schere bei den Einkommen kann nicht die Rede sein. Man könnte sogar meinen, die vor gut zehn Jahren abgelehnte 1:12-Juso-Initiative wäre dennoch umgesetzt worden. So gehört die Verteilung der Vollzeitlöhne in der Schweiz zu den gleichmässigsten der Welt.
Deshalb wird hierzulande die Diskussion über Ungleichheiten eher im Kontext der Verteilung der Vermögen als der Einkommen geführt. Die Daten der Steuerverwaltung vermitteln hier den Eindruck einer starken Konzentration: Der Gini Index der steuerbaren Vermögen lag 2022 bei 0,82. Ein Wert von 1 wäre erreicht, wenn eine einzige Person das ganze Vermögen besitzen würde. Doch Vorsicht: Bedeutende Vermögensbestandteile wie das Kapital der Pensionskasse bleiben dabei unberücksichtigt. Zudem verzerren Alterungseffekte das Bild. Ältere Personen konnten länger sparen und somit Vermögen aufbauen. Hingegen verfügt die Generation Z über weniger finanzielles Vermögen, dafür aber über ein hohes Humankapital, sprich Einkommenspotenzial. Dieses erscheint nicht in den Messungen der Vermögensungleichheit, was das Generationengefälle stark überzeichnet.
Deshalb wäre es besser, man würde die Streitereien über Einkommens- und Vermögensungleichheit beiseitelegen und stattdessen den Fokus auf relevantere Kennzahlen richten, etwa den Konsum. Letztlich kommt es weniger darauf an, was man besitzt, als was man konsumiert. Alles deutet darauf hin, dass die Konsumdisparitäten noch geringer sind als jene von Einkommen und Vermögen.
Dieser Beitrag ist in der Zeitschrift «Bilanz» der Ausgabe 01.02.2024 erschienen.