«It’s 90 seconds to midnight.» Die Doomsday Clock ist so nahe an 12 Uhr wie seit Einführung 1947 nicht mehr. Sie reflektiert die zuletzt immer weiter gestiegenen geopolitischen Spannungen. Die nach dem zweiten Weltkrieg etablierte, weitgehend regelbasierte, multilaterale Ordnung erodiert, die nach dem Fall der Berliner Mauer eingestrichene Friedensdividende Europas ist verprasst. «Früher war mehr Lametta», um es mit den Worten von Opa Hoppenstedt zu sagen. Hat der Multilateralismus erst einmal seine Kraft eingebüsst, setzt sich der Stärkere durch.

55% des Weltmarktes abgedeckt

Um dieser zunehmend machtbasierten Ordnung zu entgehen, stehen in der Aussenwirtschaft heute pluri- oder bilaterale Freihandelsabkommen im Vordergrund. Nach dem EWR-Nein durch den Souverän spannte die Schweiz – angetrieben durch geschickt agierende Verhandlungsführer und Diplomaten – ein Freihandelsnetz, das heute mit 77 Ländern rund 55% des Weltmarktes abdeckt. In den letzten Jahren kamen Ecuador (2020), Indonesien (2021) und das Vereinigte Königreich (2021) hinzu. Unterzeichnet werden konnte auch ein Abkommen mit Moldawien (2023), das aber erst noch in Kraft treten muss. Modernisiert wurde der Vertrag mit der Türkei (2021) sowie – vor wenigen Tagen – das Abkommen mit Chile (2024).

Nun also die Ankündigung des Bundesrates, dass eine Einigung mit Indien in Griffweite ist. Dazu brauchte es einen langen Schnauf, seit 2008 wurde verhandelt. Kommt es nun zur Unterzeichnung, wäre das denn auch ein Grund zum Feiern. Bei allem Jubel sollte man jedoch nicht vergessen: Die beiden wichtigsten Handelspartner der Schweiz sind – mit grossem Abstand – die EU (rund 46% aller Exporte, 2022), gefolgt von den USA (18%). Mit der EU sucht die Schweiz seit 2014 ein Weg, das erodierende bilaterale Vertragsverhältnis wieder zu verbessern. Mit den USA gab es verschiedene informelle Anläufe, ein umfassendes Freihandelsabkommen abzuschliessen, sie verliefen allesamt im Sand.

Mit Indien scheint es zu funktionieren, mit den beiden wichtigsten Handelspartnern nicht. Ist dies ein Problem? Schliesslich entwickelte sich der Handel sowohl mit der EU wie auch den USA dynamisch. Ausserdem erscheint der indische Markt – angesichts der volkswirtschaftlichen Grunddaten – zukünftig höchst attraktiv zu sein: Das Durchschnittsalter der 1,4 Milliarden Einwohner beträgt 30 Jahre, das kaufkraftbereinigte Bruttoinlandprodukt 9279 Milliarden US-Dollar, die Wachstumsrate über 7% (2022). Zweifellos, das Wachstum ist hoch, das Potenzial gar riesig. Auch Schweizer Unternehmen nutzen die Chancen: Die Exporte nach Indien betrugen zuletzt knapp drei Milliarden Franken (Waren und Dienstleistungen, 0,7% aller Exporte 2022), sie schwankten in den letzten zehn Jahren zwischen zwei und drei Milliarden. Nicht gerade dynamisch, vielleicht bringen aber die angestrebten Handelserleichterungen das lange erwartete Wachstum.

EU und USA wichtigste Handelspartner

Doch selbst wenn der Schub dank des Abkommens kommen sollte: Die EU und die USA bleiben wohl noch lange die wichtigeren Handelspartner für die Schweiz. Dies zeigt folgendes Gedankenexperiment: Nehmen wir einmal an, das Exportwachstum im Handel Schweiz–Indien betrage jährlich 10% und die Schweizer Exporte in die USA und die EU würden auf dem Niveau von 2022 eingefroren. Dann ginge es bis ins Jahr 2056, bis die Exporte nach Indien die heutigen Ausfuhren in die USA erreicht hätten und gar bis 2066, bis das heutige Exportvolumen in die EU erreicht würde.

Das angekündigte Freihandelsabkommen mit Indien ist erfreulich. Nun gilt es, den aussenwirtschaftspolitischen Fokus auf die Handelspartner am Atlantik zu legen, auf die EU und die USA. Diese sind für die Schweizer Wirtschaft zentral. Und in einer zusehends machtbasierten Weltordnung schaffen geregelte aussenwirtschaftliche Beziehungen mit den wichtigsten Handelspartnern die für Unternehmen essenzielle Rechtssicherheit. Dies gilt insbesondre für kleinere Staaten wie die Schweiz.