Der Bezug von Kapital aus der zweiten Säule soll neu gemäss Entscheid des Ständerates nur noch für Wohneigentum und Selbständigkeit möglich sein. In diesem Kontext verweisen wir auf einen Text, den Jérôme Cosandey vor gut einem Jahr publiziert hat:
Eine im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen durchgeführte Studie hat die Folgen eines Kapitalbezugs aus der 2. Säule auf die Ergänzungsleistungen (EL) untersucht. Doch wegen methodischen Mängeln sind die Resultate stark verzerrt. Ein objektiver Vergleich mit der Gesamtbevölkerung unter Einbeziehung der Rentner, die ihr Kapital bezogen, aber keine EL beantragt haben, fehlt. Ungeachtet dessen beantragt der Bundesrat, den Kapitalbezug zu beschränken.
Stellen Sie sich vor, das Bundesamt für Gesundheit hegt den Verdacht, Aspirin habe schädliche Nebenwirkungen. Es beauftragt die Notfallstationen des Inselspitals Bern und des Universitätsspitals Zürich mit einer Erhebung. Diese soll feststellen, welcher Anteil der Patienten mit Migräne vor Spitaleintritt Aspirin konsumiert hat. Das Ergebnis ist schockierend: 33 Prozent der befragten Patienten hatten Aspirin eingenommen. Daraufhin wird der Verkauf des Medikaments verboten. Ist ein solches Szenario realistisch? Natürlich nicht. Wie jedem einleuchtet, wäre eine auf die Patienten der Notfallstation beschränkte Studie massiv verzerrt. Korrekt wären zwei Stichproben in der Gesamtbevölkerung, von denen eine Aspirin konsumiert und die andere nicht. Danach würde geprüft, welche der beiden Gruppen mehr an Kopfweh leidet.
Eine wenig stichhaltige Analyse der Ergänzungsleistungen
Was beim Beispiel des Aspirins auf der Hand zu liegen scheint, hat eine im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) durchgeführte Studie offensichtlich ausser Acht gelassen. Thema waren die Folgen eines Kapitalbezugs aus der 2. Säule auf die Ergänzungsleistungen (EL). Zehn Ausgleichskassen hatten 3000 Anträge auf Ergänzungsleistungen zu analysieren. Die detaillierten Ergebnisse sind zwar interessant – 33 Prozent der Antragsteller hatten ihr Guthaben der 2. Säule (BVG) tatsächlich als Kapital bezogen – aber wenig stichhaltig. Wer die Analyse auf die EL-Antragssteller beschränkt, hat nur die Notfallstation der Altersvorsorge im Fokus. Ein objektiver Vergleich mit der Gesamtbevölkerung unter Einbeziehung der Rentner, die ihr Kapital bezogen, aber keine EL beantragt haben, fehlt.
Einsparung dank Kapitalbezug ausser Acht gelassen
Zu diesem groben methodologischen Fehler kommt noch ein zweiter, der deutlich heimtückischer ist. Die Verluste der EL-Antragsteller, die ihr Kapital bezogen hatten, wurden genauestens berechnet. Am Datum der EL-Antragsstellung verglich man die EL, die gewährt worden wären, wenn der Versicherte die Rente gewählt hätte, mit den EL, die er nach Verzehr des Kapitals tatsächlich erhält. So weit, so gut. Nicht berücksichtigt werden aber die Vorteile eines Kapitalbezugs. Bezieht ein Bürger sein Kapital und verbraucht er es innerhalb von zehn Jahren, profitiert er de facto von einem Umwandlungssatz von mindestens 10 Prozent. Seine «Rente» ist also deutlich höher als jene, die er von der Pensionskasse erhalten hätte, und er stellt seinen Antrag auf EL entsprechend später. Vielleicht stirbt er gar, bevor dies nötig wird. Der Bericht des BSV quantifiziert diese Einsparung nicht.
Eine ideologisch geprägte Einschränkung
Ungeachtet der Mängel der Studie beantragt der Bundesrat aufgrund ihrer Ergebnisse, den Kapitalbezug im obligatorischen Teil der BVG ganz zu verbieten oder auf die Hälfte des Guthabens zu beschränken. Die im Dezember 2015 in die Vernehmlassung geschickte Botschaft war ursprünglich ein Jahr früher geplant. Wir hofften, dass die zusätzliche Zeit für eine solidere Prüfung der Frage genutzt würde. Anhand des erwähnten Berichts lässt sich die Hypothese, dass der Kapitalbezug Verluste bei den EL verursache, aber weder belegen noch verwerfen. Da es an fundierten Beweisen fehlt, ist der Entscheid einer Beschränkung des Kapitalbezugs in der 2. Säule willkürlich und rein ideologisch begründet.
Den Stier bei den Hörnern packen
Die Kosten für Ergänzungsleistungen haben zwischen 2003 und 2012 um 1.9 Milliarden Franken zugenommen. Ein Drittel dieser Zunahme hängt mit den Invalidenrenten (IV) zusammen, ein Drittel mit gesetzlichen Anpassungen für den erleichterten Zugang zu EL und ein Drittel mit AHV-Renten. Nur für dieses letzte Drittel kann der Kapitalbezug tatsächlich eine Rolle spielen. Entscheidend sind aber die Kosten für die Langzeitpflege. Ein 65-jähriger Versicherter mit einem BVG-Guthaben von weniger als 50’000 Franken (ein Drittel der Personen, die sich in erwähnter Studie für den Kapitalbezug entschieden) hat die Wahl zwischen einem Kapitalbezug und einer Rente von 285 Franken pro Monat. Um monatlich 8000 Franken für ein Altersheim zu bezahlen, reicht dies nicht. Der Angriff auf den Kapitalbezug in der 2. Säule gleicht einer Nebelpetarde. Man schwimmt auf einer populistischen Welle mit: Jedermann kennt jemanden, der jemanden kennt, der seine 2. Säule verspielt hat. Die Problematik der immer jüngeren IV-Rentner und jene der Finanzierung der Alterspflege, die den öffentlichen Haushalt immer stärker belastet, wird absichtlich ausser Acht gelassen. Solange wir diese grundsätzlichen Probleme nicht lösen, werden die Ergänzungsleistungen weiter explodieren.
Dieser Beitrag ist in der März-Ausgabe 3/16 der «Schweizer Personalvorsorge» erschienen.
Lesen Sie zu diesem Thema auch: Die Gründung von neuen Unternehmen unterstützen