Avenir Suisse: Herr Wenger, Sie sind Chairman of the board von Holcim Schweiz und auf verschiedenen Ebenen philanthropisch tätig, insbesondere in Ihrer Funktion als Direktor der Baugarten-Stiftung. Was treibt einen Menschen der Wirtschaft in die Wohltätigkeit?
Kaspar Wenger: Eigentlich sollte das selbstverständlich sein. Eine erfolgreiche Karriere schliesst ein, auch für jene zu sorgen, denen es weniger gut geht – frei nach Mani Matter: «Dene wos guet geit, giengs besser, giengs dene besser, wos weniger guet geit». Es ist eine Frage der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Wenn man die Möglichkeit hat, sich zu engagieren, sollte man es tun. In meiner Familie hat das eine lange Tradition.
Ist diese Haltung nicht etwas altmodisch? Die globalisierte Wirtschaft funktioniert doch längst nicht mehr so. Sie kann sich gesellschaftliche Verantwortung in diesem Sinne gar nicht mehr leisten.
Altmodisch würde ich nicht sagen, aber die Globalisierung hat tatsächlich dazu geführt, dass man in den Unternehmen in grösseren Strukturen denkt. Man setzt zunehmend internationale Führungskräfte ein, die für vielleicht drei bis maximal fünf Jahre ins Land kommen. In so kurzer Zeit haben sie nur beschränkt die Möglichkeit, sich mit den Traditionen und Werten des Landes auseinanderzusetzen. Als Konsequenz fehlt die Identifikation mit den Herausforderungen einer Gesellschaft. Ein Engagement für die Allgemeinheit muss man als Verpflichtung ansehen. Wenn ich als ausländischer Manager in die Schweiz komme, sollte ich möglichst rasch die Systeme und die Tugenden der Schweiz verstehen. Wer nicht genügend Zeit hat, dieses Verständnis aufzubauen, sollte diese Aufgabe einer geeigneten Person oder Organisation übertragen.
Wie funktioniert das z.B. bei LafargeHolcim?
LafargeHolcim ist ein globales Unternehmen und wird von internationalen Führungskräften geleitet. An der Spitze gibt es heute nur noch wenige in der Schweiz verwurzelte Manager. Holcim Schweiz hat das Mandat, sich aktiv mit den Anforderungen und der Verantwortung eines globalen Weltmarktührers mit Hauptsitz in der Schweiz auseinanderzusetzen. Womit wir beim Thema Miliz angelangt sind: Ob ein Engagement in einer Organisation, in der Politik, in der Armee oder in einer Behörde stattfindet, ist letztlich sekundär. In der Offiziersschule hat mein Schulkommandant stets betont, es sei ein Privileg, Offizier zu sein. Das fanden wir Aspiranten natürlich reichlich treuherzig. Inzwischen habe ich erkannt, dass man als Führungskraft über Fähigkeiten verfügen muss, die andere nicht haben oder nicht haben wollen.
Anderseits gibt es Beispiele von Unternehmen, die niemanden anstellen wollen, der noch Militärdienst zu leisten hat.
Für mich ist das unverständlich. Als ich CEO von Holcim Schweiz war, hatte ich in meiner Geschäftsleitung nur Offiziere. Irgendwann wurde diese Struktur durch Ausländer und Frauen aufgebrochen. Aber das Bekenntnis zur Armee war immer da. Es darf nicht sein, dass in einem Stelleninserat Offiziere explizit ausgeschlossen werden. Das widerspricht dem Grundverständnis unseres Milizsystems und rüttelt an der DNA der Schweiz.
Sie sprechen einen klassischen Zielkonflikt an. Wie löst man den konkret?
Es braucht viel guten Willen, auch bei der Holcim Schweiz. Beide Seiten sind gefordert, d.h. der Offizier muss auch im Militär erreichbar sein und Input leisten können. Mit der Digitalisierung ist solche Flexibilität einfacher geworden. Aber es ist ein Kraftakt.
Sie haben davon gesprochen, wie die Schweiz vom Milizsystem profitiert. Gibt es auch Vorteile für die Unternehmen?
Dass junge Menschen in dieser Art Führungserfahrung sammeln können, um mit Menschen unterschiedlicher Herkunft, Material und in der Armee auch mit Munition ein vorgegebenes Ziel zu erreichen zu können, gibt es nicht in vielen Ländern. Das muss noch stärker hervorgestrichen werden. Sich mit verschiedenen sozialen und kulturellen Einflüssen auseinandersetzen zu müssen, führt zu einem zusätzlichen Mehrwert eines jeden Menschen und davon profitiert auch das Unternehmen.
Diesen Mehrwert scheint die Armee nicht allzu gut zu kommunizieren. Sie hat offensichtlich Mühe, genügend Personal zu rekrutieren. Jetzt will der Bundesrat den Zivildienst weniger attraktiv machen. Würde man das Problem mit einem allgemeinen Bürgerdienst nicht noch verschärfen?
Das Schweizerische Milizsystem ist ein Erfolgsfaktor unserer Gesellschaft: Es zwingt uns, miteinander und füreinander nach Lösungen zu suchen und ist eine wesentliche Grundlage der Willensnation Schweiz.
Verlangt ein modernes, global aufgestelltes Management nicht nach ganz anderen Qualitäten?
Natürlich gibt es heute andere Möglichkeiten, sich auszubilden, als die Armee. Soll ich ein MBA in Singapur oder eine Offiziersschule in der Schweiz absolvieren? Eine Ausbildung in Asien ist super, ein MBA ebenfalls, die Offiziersschule allerdings auch. Wofür sich ein junger Mensch schliesslich entscheidet, hängt stark vom sozialen Umfeld ab. Heute ist das Verständnis und die Identifikation für unser Milizwesen noch verbreitet und einigermassen akzeptiert. Es bedarf aber der Revitalisierung, sonst droht es ganz zu verschwinden. Nach meinen Vorstellungen sollte jeder Schweizer und jede Schweizerin, jeder Ausländer und jede Ausländerin der Kategorie B/C, ein Jahr lang eine in der Verfassung verankerte Bürgerpflicht erfüllen. Dies könnte in der Armee, aber auch im Zivilschutz, im Zivildienst, in der Alterspflege, in der Ausländerintegration oder im öffentlichen Dienst sein. Diese Idee wurde übrigens auch schon an anderer Stelle geäussert.
Wo sehen Sie die Rolle der Armee bei dieser Revitalisierung des Milizfaktors?
Es versteht sich von selbst, dass in einer so definierten Bürgerpflicht der Armee eine besondere Rolle zukommen muss. Wie genau, das ist eine Frage der Ausgestaltung, die es noch zu lösen gilt. Die Bedrohungslage der Schweiz hat sich geändert und entsprechend sind Aufgabe und Funktion der Armee anzupassen.
Was schwebt Ihnen konkret vor?
Erstmals muss diese «Bürgerpflicht» in der Bundesverfassung verankert und die Verpflichtungen im Detail noch festgelegt werden. Eine solche Bürgerpflicht würde sicherlich auch zu einer verstärkten Identifikation mit den Schweizer Werten führen.
Heute ist ein substanzieller Teil der Bevölkerung von den politischen Institutionen ausgeschlossen, weil er nicht über einen Schweizer Pass verfügt. Ist dieses Demokratiedefizit ein Problem?
Jeder, der eine solche Bürgerpflicht erfüllt, müsste natürlich auch befähigt sein, sich politisch zu äussern und an der politischen Meinungsbildung teilzuhaben. Ein Unterschied zwischen Bürgern und Nichtbürgern muss jedoch immer bestehen bleiben.
Eine Professionalisierung von Leistungen, die heute noch im Milizsystem erbracht werden, wäre kontraproduktiv?
Gewiss. Der Milizgedanke zieht sich durch das ganze Spektrum öffentlicher Pflichten und Tätigkeiten. Dies gilt insbesondere auch für politische Ämter. Eine Professionalisierung ist immer zu hinterfragen. Ich bin dezidiert gegen eine Berufsarmee, die nicht mehr mit dem Volk verbunden und von ihm getragen wird. Dies gilt trotz steigender Komplexität der Waffen- und Führungssysteme.
Es gibt neue Familienmodelle. Insbesondere die Rolle der Frauen hat sich stark gewandelt. Es ist bereits heute nicht einfach, das Familienleben zu managen. Wo soll hier noch Platz sein für einen obligatorischen Bürgerdienst?
Wenn man das Modell eines Bürgerdienstes konsequent weiterdenken will, braucht es vorerst Strukturen, die es den betroffenen Personen überhaupt ermöglichen, sich vermehrt zu engagieren. Ich denke da beispielsweise an Tagesschulen, die eine Beschäftigung unabhängig vom Schulrhythmus erlauben. So könnten alle nach abgeschlossener Ausbildung im Berufsleben verbleiben. Aber es bestehen weitere Fragen, die beantwortet werden müssten. So zum Beispiel die Frage, inwiefern die Pflege der Eltern zu beurteilen ist. Ist dies schon Teil des Bürgerdienstes? Wie kann die Identifikation und das Verständnis mit unterschiedlichen Kulturen, sozialer Herkunft, Ausbildungen und Interessen etc. erreicht werden. Wie wird ein solche Bürgerpflicht finanziert?
Lässt sich ein Bürgerdienst mit einer liberalen Gesellschaftsordnung überhaupt vereinen? Immerhin geht es dabei ja um einen neuen Zwang, um neue Regelungen.
Es gibt in jeder Gesellschaft gewisse Grundgesetze, die nicht liberal sind. Die Freiheit des einen endet bei der Beschränkung der Freiheit des andern. Das muss man regeln, das kann man nicht sich selber überlassen. Genau deshalb muss sich ein Bürgerdienst aus der Gesellschaft entwickeln.
Wie soll das funktionieren?
Vorerst gilt es weitere Kreise zu mobilisieren. Dafür können elektronische Medien und Social Media genutzt werden. Auf einer Website könnte jeder sich zu einer solchen Entwicklung bekennen. Bei genügend Followers würde sich der Druck auf die Politik erhöhen.
Eine Bürgerbewegung wie ein Crowdfunding?
Ja, in der Art eines Schneeball-Prinzips. Ein Bekenntnis zu einem Bürgerdienst könnte so vielleicht auch noch mit einer persönlichen Verpflichtung verbunden werden. Die Forderung nach einer Bürgerpflicht muss aus der Gesellschaft kommen und sollte nicht parteipolitisch oder sonstwie eingefärbt sein.
Und wer wäre geeignet, eine solche Bürgerbewegung auszulösen, wenn es nicht die Parteien sein sollen?
Darüber zerbreche ich mir den Kopf. Denn sobald das Thema parteipolitisch verortet wird, besteht das Risiko, dass Andersdenkende oder anders Organisierte dagegen Opposition machen. Wie bringt man eine Gesellschaft dazu, zu erkennen, dass sie eine Initiative benötigt, die ein individuelles Opfer bedingt und gleichzeitig die gegenseitige Akzeptanz und das gegenseitige Verständnis untereinander fördert? Es ist in der Schweiz Tradition, sich bei gesellschaftspolitischen Problemen zusammenzusetzen, zu diskutieren und nach gemeinsamen Lösungen zu suchen. Hinter einem solchen Kompromiss können endlich alle stehen und ihn im Sinnes des Gemeinwohles erfolgreich umsetzen. So sollte es eigentlich auch bei dieser Bewegung sein.
Kaspar E.A. Wenger
Nach seinem Studium in St. Gallen trat Kaspar Wenger in den Finanzbereich der UBS ein und durchlief verschiedene Stationen, u.a. war er während zwei Jahren für die Deutsche Treuhand in Berlin und im Investmentbanking in London tätig. 1994 wechselte er zu Holcim. Nach Stationen in Neuseeland und China kehrte er in die Schweiz zurück, wo er 2004 die operative Verantwortung für die Holcim Schweiz übernahm und 2012 zum Länderbereichsleiter Zentraleuropa aufstieg. Heute ist Wenger Präsident des Verwaltungsrates der Holcim Schweiz AG. Im Frühling 2016 übernahm zudem die Geschäftsführung von Baugarten Zürich (Genossenschaft und Stiftung), eine Zürcherische Institution, die soziale, kulturelle und wissenschaftliche Projekte in Zürich mit namhaften Beträgen unterstützt. Er verfügt über ein erstklassiges internationales und nationales Beziehungsnetz in Wirtschaft, Kultur und Politik. Dies wird durch seine vielfältigen Engagements in Stiftungen und Vereinen ergänzt.
Dieser Beitrag ist Teil der Publikationsreihe «Miliz heute».