Roger Braun: Herr Müller-Jentsch, ein wirtschaftsliberaler Think Tank wie Avenir Suisse verteidigt meist die Interessen der Wirtschaft. Wieso sind Sie gegenüber Steuererleichterungen für einzelne Unternehmungen skeptisch eingestellt?
Daniel Müller-Jentsch: Weil für uns attraktive Rahmenbedingungen für die gesamte Wirtschaft im Mittelpunkt stehen. Wir sind durchaus für allgemein niedrige Steuersätze, aber Steuerprivilegien für einzelne Firmen sehen wir skeptisch. Gerade wenn Steuerprivilegien als Ersatz für gute Rahmenbedingungen für alle gesehen werden, ist das problematisch.
Was konkret stört Sie an Steuerprivilegien?
In erster Linie ist es eine Wettbewerbsverzerrung. Es ist nicht fair, wenn alteingesessene, einheimische Betriebe anders behandelt werden als ausländische Firmen, die neu hinzuziehen. Aus ordnungspolitischer Sicht sollten alle Firmen gleich behandelt werden, ganz egal, woher sie kommen und wie lange sie schon in der Schweiz sind. Besonders problematisch wird es dann, wenn sich die Kantone gegenseitig gute Steuerzahler mittels besonderer Vergünstigungen abjagen. Der Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen sollte stattdessen über die allgemeinen Steuersätze erfolgen.
Auf internationaler Ebene sind Steuererleichterungen auf Einzelfallbasis gang und gäbe. Wieso soll die Schweiz da abseits stehen?
Es stimmt, dass international mit harten Bandagen gekämpft wird und dabei die ordnungspolitischen Grundsätze häufig auf der Strecke bleiben. Trotzdem bin ich der Meinung, dass die Schweiz auch ohne Steuerprivilegien konkurrenzfähig ist. Das liegt vor allem am Standortwettbewerb zwischen Kantonen und Gemeinden, der wie ein Trainingslager für den internationalen Standortwettbewerb wirkt. Die Schweiz braucht darüber hinaus kein zusätzliches Standortdoping – umso weniger, als dass vermutlich viele Firmen von Steuerrabatten profitieren, die sowieso in die Schweiz gekommen wären. Diese Mitnahmeeffekte kosten den Steuerzahler indirekt eine schöne Stange Geld.
Das mag auf die Zentren zutreffen. Doch was wird aus den Randregionen? Brauchen die nicht zusätzliche Möglichkeiten, Unternehmen anzusiedeln?
Kantone wie Appenzell Innerrhoden oder Obwalden haben gezeigt, dass auch ländliche Kantone im Standortwettbewerb punkten können, wenn sie das allgemeine Steuerklima verbessern. Steuerrabatte können allenfalls für grosse, strukturschwache Kantone sinnvoll sein, weil für diese generelle Steuersenkungen teurer sind und durch Neuzuzüge schwierig zu kompensieren sind. Sie müssen aber in eine Gesamtstrategie zur Verbesserung der allgemeinen Wettbewerbsfähigkeit eingebettet sein.
Avenir Suisse sieht weniger Standortförderung auch als Mittel, um die Einwanderung zu senken. Gemäss Bundesrat gehen 2,7 Prozent der Nettoeinwanderung auf die Standortförderung zurück. Macht man sich da nichts vor?
Unseren Berechnungen zufolge sind diese Zahlen deutlich zu niedrig. Wir sehen mehr Zurückhaltung in der Standortförderung aber ohnehin nur als eine von mehreren Massnahmen zur Drosselung der Zuwanderung. Dadurch soll die Einführung von Kontingenten vermieden werden. Der Erhalt der Personenfreizügigkeit und der Bilateralen ist für den Standort Schweiz von weit grösserer Bedeutung als die Standortförderung.
Dann würden Sie also alle Steuervergünstigungen ersatzlos streichen?
Aus rein ordnungspolitischer Sicht ja. Allerdings muss man auch die gegenwärtig schwierige wirtschaftliche Lage berücksichtigen. Nun sämtliche Möglichkeiten für Steuererleichterungen abzuschaffen, wäre heikel. Es geht zunächst einmal darum, Mass zu halten. Langfristig jedoch sollten firmenspezifische Privilegien abgeschafft werden.
Interview: Roger Braun, «Ostschweiz am Sonntag», 19. Juli 2015
Mit freundlicher Genehmigung der «Ostschweiz am Sonntag»