Alle 5 Jahre erneuert das Bundesamt für Statistik (BFS) seine Bevölkerungsszenarien grundlegend. Im Mai dieses Jahres war es wieder so weit. Anders als andere Male bewegten sich die neuen Zahlen aber weitgehend unter dem Medienradar.
Der erste Grund dafür ist klar: Corona monopolisierte die Medienberichterstattung wie kaum ein Thema zuvor. Der zweite Grund: Zum ersten Mal seit dem Jahr 2000 bedeuteten die neuen Szenarien nicht eine starke Korrektur der vorhergehenden und stellten insofern keine «News» dar.
2000, 2005 und 2010 lag das BFS jeweils deutlich zu tief (vgl. Abbildung 1). Das tatsächliche Bevölkerungswachstum der nächsten Jahre übertraf jeweils sogar das Szenario «hoch» und damit die obere Grenze der als plausibel definierten Bandbreite, was jeweils Zweifel an Wert und Methodik dieser Szenarien aufkommen liess. Dass die 2015er-Schätzung als Gegenreaktion auf diese Fehlschläge dagegen eher zu hoch gegriffen sein würde, war schon damals zu erahnen.
Und so kam es dann auch: Heute leben gut 70’000 Personen weniger in der Schweiz als im 2015er-Referenzszenario vorausgesagt. Das liegt vor allem an der – gegenüber den Rekordjahren um 2010 – deutlich gesunkenen Zuwanderung (vgl. Abbildung 2). 2017, 2018 und 2019 lag der jährliche Wanderungssaldo mit gut 40’000 Personen (was etwa 0,5% der Einwohnerzahl entspricht) deutlich unter den Prognosen von 2015. Entsprechend schlecht lässt sich damit Stimmung gegen die Personenfreizügigkeit machen.
Das könnte ein Grund dafür sein, warum die SVP im Abstimmungskampf stattdessen neu das Schreckgespenst der 10-Millionen-Schweiz an die Wand malt. 10 Millionen – das mag in den Köpfen vieler Baby-Boomer oder Gen-X-Zugehörigen, für welche die Schweiz immer noch ein 6- oder 7-Millionen-Land ist, nach etwas fundamental Neuem und potenziell Gefährlichem klingen. Doch weder das eine noch das andere trifft zu.
Erst einmal sei festgehalten, dass schon heute (Anfang September 2020) die Schweiz eine ständige Wohnbevölkerung von 8,65 Mio. aufweist. Es fehlen also bloss noch 1,35 Mio. bis zur 10-Millionen-Marke. 1,35 Mio. weniger als heute, nämlich 7,3 Mio. Einwohner, hatten wir 2002, also vor 18 Jahren. Die 10 Millionen würden wir im aktuellen Szenario «Referenz» im Jahr 2040, also in 20 Jahren, erreichen. Das alleine zeigt schon, dass da wachstumstechnisch nichts Neues auf uns zukommt.
Zweitens hat es in der Schweiz mehr als genug Platz. Würde man nur schon die Stadt New York – die weniger als die Hälfte der Fläche des Kantons Zürichs einnimmt, obwohl sie sogar eine grosse, eher dünn besiedelte Insel (Staten Island) beinhaltet – an die Stelle der Stadt Zürich setzen, zählte die Schweiz schon 15 Millionen Einwohner.
Die Frage, ob die Schweiz 10 Millionen verträgt, stellt sich also gar nicht. Höchstens kann man fragen, wie man diese Dichte am besten organisiert. Wobei die Antwort darauf naheliegt: mit attraktiven städtischen Räumen. So können jene, die das wollen, in einem urbanen Umfeld wohnen, das diese Bezeichnung auch verdient, und jene, die Beschaulichkeit und Natur bevorzugen, ausserhalb.
Und zuletzt: Vor diesem Bevölkerungswachstum – ob es denn eintrifft, ist alles andere als sicher – müssen wir uns nicht fürchten, sondern wir können froh darum sein: In einem alternden Europa wird der Wettbewerb um junge, gut gebildete Arbeitskräfte intensiver werden. In der Schweiz scheiden schon heute mehr Personen aufgrund Pensionierung aus dem Arbeitsmarkt aus, als Neuausgebildete nachrücken.
Sollte es die Schweiz weiterhin schaffen, jährlich etwa 40’000 bis 50’000 Nettozuwanderer anzulocken, ist das ein Erfolg, mit dem wir erreichen können, dass unser Arbeitskräftepotenzial nicht kontinuierlich schrumpft. Es ist daher zu hoffen, dass sich das 2020er-Bevölkerungsszenario bewahrheiten wird.