Maura Wyler: Aktuell dominieren diverse Krisen die Schlagzeilen. Stimmt die Wahrnehmung, dass sich Krisen gerade häufen, oder täuscht der Eindruck?

Lukas Rühli: Grundsätzlich haben wir einen Medienbias zugunsten von Krisenberichterstattung. Medien berichten stärker über negative Ereignisse als über positive, was die Wahrnehmung der Öffentlichkeit entsprechend verzerrt. Mit Covid, Ukrainekrieg und Bankenkrise erleben wir aktuell eine zufällige Häufung von Krisen. In Wirklichkeit zeigen diverse Statistiken, dass sich die allermeisten Zustände in der Welt in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert haben. Dennoch ist die Zuversicht der Bevölkerung, dass es der nachfolgenden Generation besser geht als der jetzigen, in den westlichen Ökonomien gesunken.

Alexander Wagner: Man muss zuerst fragen, was man überhaupt mit Krisen meint. Deshalb gibt es auch keine Studien, die klar nachweisen, ob es mehr oder weniger Krisen gibt. Was jedoch zutrifft, ist, dass die Vernetztheit der Welt – Handel, Globalisierung, Digitalisierung, Vernetzung der Gesellschaft – um einiges grösser ist und dazu führt, dass Krisen einen durchschlagenderen Effekt in vielen Bereichen haben.

Was sind die Voraussetzungen, um eine Krise gut zu meistern? Können und wollen wir möglichst alle Krisen vermeiden oder bergen Krisen gar auch Chancen für Veränderung? Lukas Rühli (r.) und Prof. Alexander Wagner (m.) diskutieren mit Maura Wyler über verzerrte Wahrnehmung und die Bedeutung von Krisenkompetenz. (Foto: Oec. Magazin, Caroline Krajcir)

Man kann Krisen also nicht messen, weil sie nur subjektiv als solche definiert werden können?

Wagner: Was man als Krise betrachtet, liegt ein grosses Stück weit im Auge des Betrachters. Tatsächlich ändert sich etwas an der Situation, wenn man sie als Krise bezeichnet. Strategisch genutzt löst das Wort Krise einen Sense of Urgency aus, mit dem im Unternehmertum bewusst ein bestimmtes Ziel verfolgt werden kann. Natürlich birgt dies das Risiko, dass Leute negativ darauf reagieren und Angst bekommen.

Nehmen wir heute Krisen anders wahr als früher?

Rühli: Was wir früher hatten, würden wir heute konstant als Krise wahrnehmen. Die Zeit vor der Industrialisierung war aus heutiger Sicht eine permanente Krisensituation. Wir sind heute durch den Wohlstand viel resilienter geworden gegenüber Krisen. Meistens erleben wir Krisen, die unser Leben ein bisschen unangenehm machen. Existenzbedrohend sind die Wenigsten. Andererseits wohnt der heutigen, technologisch fortgeschrittenen Gesellschaft ein neues, fundamentales Krisenpotenzial inne, das sich bisher zum Glück nicht manifestiert hat. Man denke etwa an die Atombombe, an Biotechnologie oder an AI. Sie alle könnten theoretisch zu einer weitgehenden Auslöschung der Menschheit führen. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist, ist sie doch existent. Das ist neu.

Klimakrise, Regierungskrise, Midlife Crisis – das Spektrum von Krisen ist sehr breit. Was ist der gemeinsame Nenner?

Wagner: Das Wort Crisis stammt aus dem Griechischen und bedeutet auch Entscheidung. Das ist nicht zwingend negativ bewertet. Eine Krise ist also eine Situation, die Entscheidungen erfordert. Sie entwickelt sich rasch und bei Nichthandeln rasch negativ. In den meisten Fällen gibt es ein gewisses überraschendes Element. Diese Merkmale bilden den gemeinsamen Nenner der interdisziplinären Definition aus dem UZH Zentrum für Krisenkompetenz (vgl. Infobox), wo Forschende aus sieben Fakultäten beteiligt sind.

UZH Zentrum für Krisenkompetenz

Das UZH Zentrum für Krisenkompetenz (UZH Center for Crisis Competence, CCC) erforscht die Ursachen, Verläufe und Konsequenzen von Krisen und den Erfolg von Lösungsansätzen. Dies tut es interdisziplinär: Als einziges Zentrum der UZH vereint es Forschende aller sieben Fakultäten. An der Schnittstelle zu Wirtschaft, Politik und Gesellschaft fördert das CCC die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft und ihrer Institutionen über Forschung, Lehre, Anlässe und Netzwerke. Damit eröffnet es neue Horizonte flexibler Krisenreaktionen.

www.crisiscompetence.uzh.ch

Rühli: Die Krise ist für mich eine Situation, wo eine sicher geglaubte Gewissheit erschüttert wird, und sie passiert oft, wenn nicht auf eine Veränderung von Rahmenbedingungen reagiert wird. Natürlich gibt es auch die exogenen Katastrophen, die passieren einfach. Aber gerade persönliche, politische oder staatliche Krisen sind immer ein Versäumnis, Anpassungen vorzunehmen, die nötig wären. Obwohl sie teils vorhersehbar sind, ist es im politischen oder sozialen System dann doch nicht möglich, sie zu verhindern. Die Veränderung wird erst möglich, wenn die Krise ausgelöst wurde.

Wagner: Das kann ich bestätigen. Gerade wenn ich an Fälle aus der Corporate-World denke, wo sich für ein Unternehmen eine Rahmenbedingung verändert. Aber es kann auch sein, dass die Veränderung von jemandem mit einer gewissen Intention bewusst ausgelöst wird. Gerade im wirtschaftlichen Wettbewerb gibt es strategische Interaktionen. Was die Chance des einen ist, kann die Krise des anderen sein.

Krisen haben stets eine negative Konnotation, können jedoch auch als Impulsgeber für Fortschritt und Innovation dienen. Wie können wir aus Krisen lernen und sie optimal nutzen?

Rühli: Man muss sich bewusst sein, dass in gut entwickelten Systemen eine fundamentale Änderung fast nicht möglich ist, weil der Bedarf nicht gesehen wird, solange alles rund läuft. Da kommen Behavioral Economics ins Spiel. Menschen sind risikoavers und verlustavers. Verluste reduzieren ihr Wohlbefinden normalerweise stärker negativ als Gewinne gleichen Betrags es erhöhen. Und darum haben sie eine Status-Quo-Präferenz. Erst die Krise führt zu einem Zustand, wo eben der Status quo so unangenehm wird, dass man bereit ist, fundamentale Änderungen durchzuführen. Darum braucht es in weit entwickelten gesellschaftlichen Systemen solche Krisen, um grössere Veränderungen hervorzurufen.

Sie beide vertreten die Ansicht, dass gerade in Unternehmen viele Krisen «hausgemacht» sind. Wie kann man diese vermeiden?

Wagner: Es gibt verschiedene Ansatzpunkte, wovon mir zwei aus der Forschung und aus meiner praktischen Erfahrung besonders wichtig erscheinen: gute Corporate Governance und die Berücksichtigung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse. Man kann mit einer guten Governance selten einen Preis gewinnen, aber mit einer schlechten sehr viel zerstören. Doch Krisen können nicht vermieden werden, indem man Boni für Kaderleute verbietet, wie es kürzlich in einer Motion beschlossen wurde. Da geht der Schuss nach hinten los, denn es gibt immer irgendwelche, allenfalls auch nicht-monetäre, Anreize. Zentral ist, wie Menschen auf diese Anreize reagieren. Genauso, wie wir das Autofahren nicht verbieten können, um Unfälle zu vermeiden, können wir nicht schlechte Governance verbieten.

Rühli: Wir müssen akzeptieren, dass Krisen dazugehören. Vor allem zu einem freiheitlichen Wirtschaftssystem. Wenn man jede Krise ex ante verhindern will, dann schafft man in einem System sehr viel Rigidität, was langfristig zu noch negativeren Resultaten führen kann.

Wagner: Und selbst wenn man es könnte: Es ist einfach prohibitiv teuer, alle Krisen zu vermeiden. Die Aussage ist sehr wichtig und gleichzeitig sehr kontrovers. Da muss man auch sensibel sein gegenüber jenen, die von Krisen betroffen sind. Es ist schwierig, politisch zu kommunizieren, dass es für einen Staat oder ein Unternehmen nicht optimal ist, alles zu tun, um alles zu vermeiden.

Welche Rolle spielen das Verhalten von uns Menschen und die Kommunikation in einer Krise?

Rühli: Zur Verhinderung von Krisen aller Art sind Kommunikation, Kooperation und ehrlicher Umgang miteinander zentral. Mitläufertum, Herdendenken, starres Hierarchiedenken und Silodenken sind Dinge, die Krisen eher fördern. Beim Unternehmen hat der Chef einen grossen Einfluss auf die Unternehmenskultur. Schädlich ist eine Atmosphäre von fehlendem Vertrauen. Wichtig ist eine offene und faire Feedbackkultur.

Wagner: Wenn es im Unternehmen erlaubt ist, auch unbequeme Fragen zu stellen, dann ist das ein Element von Krisenkompetenz. Das Wissen, dass in einem Unternehmen etwas nicht gut läuft, muss irgendwie an die Oberfläche kommen. Und damit man aus Krisen etwas lernen kann, muss man das Lernen explizit machen. Darum sprechen wir auch von Krisenkompetenz. Es ist wichtig, dass man während einer Krise das Learning so festhält, dass es im organisationalen Gedächtnis verbleibt. Man sagt ja nicht umsonst, man soll keine gute Krise ungenutzt verstreichen lassen.

Herr Wagner, Sie sind Co-Leiter des UZH Zentrums für Krisenkompetenz. Warum dieser Fokus auf Krisenkompetenz und nicht z.B. auf Krisenmanagement?

Wagner: Weil nach der Krise vor der Krise ist. Es geht nicht darum, jede Krise zu vermeiden, sondern darum, die Überzeugung zu haben, dass ich als Manager, als Individuum oder wir als Gesellschaft die Wege und Mittel haben, mit der Krise umzugehen. Ein weiteres Element von Kompetenz ist, die Unsicherheiten etwas zu reduzieren und zu verstehen, was die zentralen, potenziellen Krisen sind, auf die wir fokussieren müssen. Wir haben limitierte Ressourcen und Zeit und brauchen einen Radar für jene Krisen, für die man wirklich Kontingenzpläne braucht. Reines Krisenmanagement ist zu wenig.

Alexander Wagner ist Professor für Finance an der UZH, Senior Chair am Swiss Finance Institute und Prodekan für Weiterbildung und Alumni. Er interessiert sich besonders für die Reaktionen der Anleger auf Grossereignisse, die Kommuni­kation auf den Finanzmärkten und Sustainable Finance.

Herr Rühli, Sie hingegen vertreten eher die Ansicht, dass man die meisten Krisen nicht vorhersehen kann und sich daher nicht oder nur bedingt darauf vorbereiten kann.

Rühli: Die Menschen überschätzen sich generell. Die meisten von uns nehmen an, dass die Zukunft eine Extrapolation der Entwicklung der letzten zehn Jahre ist. Die Zukunft ist jedoch nicht voraussehbar und nicht planbar. Man kann sich kaum spezifisch auf gewisse Krisen vorbereiten. Der Fokus muss auf Kommunikation, Kooperation, Flexibilität, Informationsaustausch und auf eine gewisse Redundanz in gesellschaftlichen und unternehmerischen Strukturen gelegt werden, was allgemein Krisenresilienz fördert.

Wagner: Zur Redundanz gibt es auch wirklich gute Forschungsbefunde. Die härteste Redundanz für ein Unternehmen ist, Cash verfügbar zu haben. Das hat gerade in Niedrigzinsperioden starke Opportunitätskosten. Es hat sich aber gezeigt, dass die Unternehmen, die mehr Cash verfügbar haben, besser durch Krisen kommen.

Rühli: Auf unternehmerischer Ebene steht Redundanz in einem gewissen Widerspruch zur Effizienz. So ist man in der Unternehmensleitung unter ständigem Rechtfertigungszwang. Die Krux dabei: Je besser man sich schützt, desto weniger passiert etwas und desto eher werden die Vorsichtsmassnahmen von aussen als übertrieben wahrgenommen. Daher ist auf Unternehmensebene die Tendenz vorhanden, zu wenig Redundanz zu schaffen. Verstärkt wird dieser Effekt durch ein Phänomen, das man in der Spieltheorie als Geiseldilemma kennt: Im einzelnen Fall ist es besser, mit Flugzeugentführern zu verhandeln, um zu verhindern, dass sie den Geiseln etwas antun. Wenn das aber bekannt ist, werden umso mehr Flugzeuge entführt. Analog dazu entstehen mehr Krisen, wenn die Unternehmen wissen, dass im Zweifel der Staat Hilfe leistet. Denn das senkt den Anreiz weiter, diese Redundanz selber zu schaffen.

Dieses Interview ist in «Oec.», dem Magazin der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät UZH und ihrer Alumni, erschienen, Ausgabe Juni 2023. Text: Maura Wyler. Fotos: Caroline Krajcir.