Die gegenwärtige militärische Invasion Russlands in die Ukraine stellt eine Zäsur dar. Europa, das über weite Strecken auf lange Jahrzehnte des Friedens zurückblickt, ist mit einer kriegerischen Auseinandersetzung konfrontiert, ausgelöst durch revisionistische Grossmachtbestrebungen des russischen Präsidenten.

Die Eskalation der Ereignisse sorgte selbst bei vielen Expertinnen und Experten für Erstaunen, wenn nicht gar Entsetzen. Doch sie spiegeln auch eine geopolitische Entwicklung, die sich schon seit längerem abzeichnete: Die Konkurrenz zwischen Gross- und mittelgrossen Mächten nimmt zu, das internationale Umfeld ist instabiler und unberechenbarer geworden. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine basierte im Vorfeld auf den umfassend vorhandenen Cyberfähigkeiten. Um aber territoriale Geländegewinne zu erzielen, marschiert Russland in altbekannter Manier mit Panzern ein.

Die militärische Aggression Russlands in der Ukraine hat – das steht ausser Frage – schwerwiegende und weitreichende Konsequenzen. In erster Linie für die Ukraine und ihre Bürgerinnen und Bürger, aber auch für die westliche Allianz und die europäische Sicherheitsordnung. Was bedeutet das für die Schweiz?

Der Bundesrat hat in seinen zahlreichen sicherheitspolitischen Verlautbarungen in den vergangenen Jahren wiederholt festgehalten, dass die territoriale Integrität der Schweiz mit grosser Wahrscheinlichkeit weder vom aggressiven militärischen Verhalten Russlands noch von einer allfälligen Auseinandersetzung zwischen der Nato und Russland beeinträchtigt würde. Doch die Lage in der Ukraine verändert sich derzeit im Tages-, wenn nicht sogar Stundenrhythmus, und die vollen Konsequenzen des Konflikts werden sich erst nach und nach herauskristallisieren. Auch die Schweiz wird Auswirkungen spüren – sei es in sicherheitspolitischer oder wirtschaftlicher Form.

Avenir Suisse wird in wenigen Wochen eine Studie zur Ausgestaltung der schweizerischen Sicherheitsarchitektur publizieren. Nicht als überhastete Reaktion auf die aktuellen Ereignisse, sondern ganz im Gegenteil: Die Forschungsarbeiten begannen schon vor über einem Jahr – als ein derart expliziter territorialer Angriff Russlands sowohl vom Bundesrat als auch von der Nato für unwahrscheinlich betrachtet wurde. Die aktuellen Ereignisse bestätigen die Stossrichtung der Studie – hier vorab nur zwei Punkte:

Die Schweiz hat bedeutenden Aufholbedarf in der Cyberabwehr. Die Cyberkapazitäten des Kremls, obwohl sie bisher vor allem für Desinformationskampagnen eingesetzt wurden, zeigen die Relevanz dieses Bedrohungsbildes auf. Cyberangriffe – sei es mit kriegerischem oder kriminellem Hintergrund – haben das Potenzial, einem Staat sowie dessen Wirtschaft und Gesellschaft bereits vor einem terrestrischen Angriff erheblichen Schaden zuzufügen.

Cyberangriffe haben das Potenzial, einem Staat sowie dessen Wirtschaft und Gesellschaft bereits vor einem terrestrischen Angriff erheblichen Schaden zuzufügen. (Kaur Kristjan, Unsplash)

Zweitens zeigt der Angriff der russischen Streitkräfte mit aller Deutlichkeit die Bedeutung transnationaler Kooperation westlicher und insbesondere europäischer Länder auf. Es ist viel wahrscheinlicher, dass ein konventioneller Konflikt Europa als Kollektiv im Rahmen einer gemeinsamen Verteidigungsanstrengung betreffen würde – und nicht isoliert die Schweiz. Da die Verteidigung im Ernstfall im Verbund am effizientesten ist, müssen Fähigkeiten vorab abgestimmt, eingeübt und aufgebaut werden.

Dies betrifft auch die Koordination und Interoperabilität der Luftstreitkräfte. Durch eine verstärkte transnationale Militärkooperation der Schweiz, beispielsweise durch eine Teilnahme an Nato-Übungen oder einen stärkeren Einbezug in gesamteuropäische Verteidigungsinitiativen, könnte die Schweiz ihren Beitrag zur kollektiven Sicherheit Europas erhöhen. Die Diskussion eines politischen Neutralitätsverständnisses der Schweiz, das über die rechtlichen Neutralitätspflichten hinausgeht, könnte einen Sicherheitsgewinn für die Schweiz darstellen. Der statische Neutralitätsbegriff muss sich daher weiterentwickeln.

Die aktuelle Situation zeigt die Wichtigkeit des Themas Sicherheitspolitik und rückt dieses stärker ins Scheinwerferlicht der Schweizer Öffentlichkeit. Öffentliche Diskussionen sind wichtig, um in einer komplexen und herausfordernden sicherheitspolitischen Landschaft eine bedarfsgerechte und effiziente Sicherheitspolitik zu gewährleisten. Dass die aktuellen Ereignisse diesem Thema eine ganz neue Brisanz verleihen, bereitet keine Freude – ganz im Gegenteil: Es ist eine Brisanz, auf die unser Land, aber auch Europa sehr gerne verzichtet hätte.