Ende September 2017 hat die Schweizer Stimmbevölkerung über zwei Abstimmungsvorlagen entschieden, die exemplarisch den Reformstau in unserem Land verdeutlichen. Mit der Vorlage zur Altersvorsorge 2020, die im Nationalrat mit der knappstmöglichen Mehrheit von 101 Stimmen zustande gekommen war, wurde eine unausgegorene Lösung präsentiert. Die sachliche Diskussion, welcher Umfang an Vorsorge angesichts des demografischen Wandels machbar wäre und wie diese dauerhaft auf eine tragfähige finanzielle Basis gestellt werden kann, wurde nicht geführt. Dass die gleichen parlamentarischen Kreise, welche die Vorlage unterstützt haben, am Tag nach der Schlussabstimmung im Parlament bereits auf den Bedarf einer weiteren Reform hinwiesen, zeigt, welche kurze Lebenserwartung die präsentierte «Vorsorgelösung» hatte. Und bei der gleichzeitig dem Volk vorgelegten Vorlage zur Ernährungssicherheit konnte niemand schlüssig erklären, warum diese überhaupt zur Abstimmung gelangte. Der neue Verfassungszusatz zum Landwirtschaftsartikel unterscheidet sich inhaltlich kaum von der früheren Bestimmung.

Eine Diskussion um die Folgen der Regulierungen wird nicht geführt

Bei beiden Vorlagen wird deutlich, dass die vertiefte Diskussion mit dem Stimmvolk um die Notwendigkeit nachhaltiger Reformen fehlt. Die Folge: Eine eigentliche Modernisierungshalde türmt sich auf. Dies betrifft beileibe nicht nur die Ausgestaltung der Altersvorsorge oder die Schweizer Agrarpolitik. Bei Letzterer treten wir ja an Ort. Gestritten wird heute alleine darum, in welche Richtung wir dabei schauen sollen. In den Zeitungsspalten wird gefragt, wie glücklich ein Land sein muss, das keine grösseren Probleme hat, als seine Stimmbürger über eine Verfassungsänderung abstimmen zu lassen, die nichts Neues bringt. Wir wähnen paradiesische Zustände in der Schweiz, die punkto Wohlstand weltweit eine Spitzenstellung einnimmt.

Der Paradiesgletscher, dem der Hinterrhein entspringt. (ETH Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

Bei solchen Erfolgsmeldungen geht bisweilen unter, was dem heutigen Wohlstand unseres Landes zugrunde liegt. Die eigentliche wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der Schweiz fand ihren Ausgangspunkt – allen 1.-August-Reden zum Trotz – nicht auf der Rütliwiese, sondern startete erst Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese Zeit war geprägt von einer beschleunigten Internationalisierung. Erst mit der laufenden Erneuerung von wirtschaftsfreundlichen Rahmenbedingungen, mit dem Freihandelsprinzip im Warenverkehr, der Errichtung des Bankensystems und dem starken Wachstum der Exportindustrie gelangte die Schweiz in ihre Spitzenposition. Doch auch der liberal ausgestaltete Arbeitsmarkt, der föderalistische Systemwettbewerb, die moderate Steuerlast und eine vergleichsweise tiefe Staatsquote trugen das Ihre zur wirtschaftlichen Wohlfahrt bei.

Immigranten prägten die Schweizer Wirtschaft

Die ausgeprägte Internationalisierung zeigte sich in der traditionellen Offenheit für Arbeitsmigration. Zahlreiche Schweizer Grossunternehmen und bekannte Institutionen sind von Personen mit Migrationshintergrund gegründet worden. Es sind Persönlichkeiten wie Henri Nestlé, Nicolas Hayek oder Ludwig Knie. Tempi passati angesichts der gegenwärtig hitzig geführten Debatte um Zuwanderungsbeschränkungen? Wohl kaum. Infolge der demografischen Veränderungen sind im Jahr 2016 erstmals mehr inländische Arbeitskräfte aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden als nachgerückt, alle Babyboomers werden bis 2035 pensioniert sein. Sie werden so grosse Lücken hinterlassen, dass die geburtenschwachen nachfolgenden Jahrgänge diese bei weitem nicht füllen können.

Ein unpopuläres, aber nicht minder wahres Faktum: Um den demografischen Wandel zu bewältigen, ist in den nächsten Jahren neben zahlreichen anderen Massnahmen ein Mehr an Arbeitsmigration etwa aus Drittstaaten unverzichtbar, um der Nachfrage der einheimischen Unternehmen nach Arbeitskräften gerecht zu werden. Die Migrationsfrage wird aber immer weniger aus ökonomischer oder demografischer Warte beurteilt, Reformen etwa für eine vereinfachte Rekrutierung aus Drittstaaten lassen auf sich warten.

Generell zeigt die Erneuerungsbereitschaft der Schweiz Lähmungserscheinungen. Letzte weitreichende Reformen, die mit dem Abschluss der Bilateralen den Zugang zu den europäischen Märkten sicherten und auch im Landesinnern Erneuerungsimpulse auslösten, fanden vor rund 20 Jahren statt. Mittlerweile fehlt die Kraft für umfassende Modernisierungen. Neue Freihandelsabkommen, die unseren Unternehmen einen privilegierten Zugang zu Märkten ausserhalb Europas ermöglichen, werden durch die Agrarinteressenvertreter bekämpft. Und eine dynamische Entwicklung unserer Beziehungen zu unserem wichtigsten Handelspartner, der EU, soll durch die Zementierung des Status quo verunmöglicht werden.

Die Schweiz schottet sich ab – mit entsprechenden Risiken

Der Mythos des souveränen Kleinstaates wird selbst im Zeitalter globaler Wertschöpfungsketten in absoluter Form gepflegt, Abschottungstendenzen beherrschen den öffentlichen Diskurs allenthalben. Ausländische Direktinvestitionen fallen im OECD-Vergleich für viele Branchen unterdurchschnittlich aus, dafür gibt es unzählige Staatsbetriebe mit inhärenten Risiken für die Steuerzahler, wie die kantonalen Energiebetriebe mit ihren milliardenschweren Abschreibern eindrücklich vor Augen führen. Dass die Schweiz im Gegensatz zu anderen Ländern immer noch einen isolierten Strommarkt hat, kommt uns Konsumenten teuer zu stehen: Wir sind, so auch die offizielle Bezeichnung, «gefangene Kunden», gefesselt an den lokalen Stromanbieter.

Die Folgen dieser Entwicklungen und der ausbleibenden Reformen sind mittlerweile deutlich sichtbar: Im Wirtschaftswachstum hinken wir den Ländern der Eurozone hinterher, und das Produktivitätswachstum ist unterdurchschnittlich. In den letzten 20 Jahren fiel die jährliche Wachstumsrate der Produktivität in Deutschland um 16% höher aus, in den USA sogar um 59%. Gegen 45% der Wertschöpfung werden mittlerweile staatlich umverteilt über Steuern, Zwangsabgaben und Gebühren. Das Beharren auf dem Status quo, das reaktive Verteidigen des Wohlstands ist aber der falsche Ansatz. Es sollte wieder vermehrt ins kollektive Bewusstsein eindringen, dass erst die ständige Erneuerungsbereitschaft seit Beginn des modernen Bundesstaates der Schweiz den heutigen Wohlstand ermöglicht hat. Ansonsten droht der Abstieg aus dem Wohlstandsparadies.

Dieser Artikel ist unter dem Titel «Lähmungserscheinungen» in der Ausgabe vom 23. September 2017 in der «Schweiz am Wochenende» erschienen und wurde für die Publikation nach dem Abstimmungstermin leicht aktualisiert.