Langfristperpektiven von Schuldenquote und Demografie im Vergleich

Solide Finanzpolitik berücksichtigt die Auswirkungen heutiger Massnahmen oder Unterlassungen auf kommende Generationen. Sie braucht deshalb einen langen Atem. Zu Recht befasst sich das Eidgenössische Finanzdepartement (EFD) mit den langfristigen Perspektiven der öffentlichen Finanzen. Es publizierte im Januar 2012 zum zweiten Mal nach 2008 einen Bericht. Dieser verwendet den international gängigen «No-policy-change»-Ansatz. Er geht von den heutigen gesetzlichen Regelungen aus und projiziert die Eckdaten des Staatshaushalts einschliesslich der Sozialversicherungen unter plausiblen Annahmen für Bevölkerungsentwicklung, Wachstum und Inflation in die Zukunft. Damit soll der Handlungsbedarf aufgedeckt werden. Der erste Bericht deckte den Zeithorizont 2005 bis 2050 ab, der zweite verlängert ihn bis ins Jahr 2060. Letzterer kommt zum Schluss, dass die Schulden von Bund, Kantonen, Gemeinden und Sozialversicherungen  unter den getroffenen Grundannahmen auf 131% des Bruttoinlandprodukts steigen werden, wobei der Hauptharst der Schuldenzunahme auf die Sozialversicherungen entfällt.

Schlüsselfaktor Migration

Interessant ist der Vergleich der beiden Studien. Wie die Tabelle zeigt, weichen die Resultate markant voneinander ab. 2008 war der Anstieg der Staatsschuldenquote zwischen 2005 und 2050 auf 91,6 Prozentpunkte veranschlagt worden, während die neue Analyse für den gleichen Zeitraum mit einer Zunahme um nur noch 43,5 Prozentpunkte rechnet. Die augenfällige Verbesserung ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass der durchschnittliche jährliche Migrationssaldo heute mit 27 000 Personen um 7000 Einwanderer höher angesetzt wird als 2008. Für das Jahr 2050 wird nun mit einer Wohnbevölkerung von 9 Millionen (2008: 8,1 Millionen) gerechnet. Das scheint realistischer. Der Einfluss der Demografie fällt langfristig stark ins Gewicht, auch wenn die jährlichen Veränderungen auf den ersten Blick bescheiden anmuten.

Doch sind solche Übungen überhaupt sinnvoll, wenn innerhalb von vier Jahren derart unterschiedliche Ergebnisse resultieren? Ein Risiko lässt sich nicht leugnen: Reformunwillige Kreise können mit dem Hinweis auf mangelnde Glaubwürdigkeit solcher Analysen den finanzpolitischen Handlungsbedarf negieren. Dieses Spiel wird häufig gespielt, etwa, wenn günstiger ausfallende Projektionen als Killerargument gegen AHV-Revisionen benützt werden.

Projektionen sind keine Prognosen

Trotz ihrer Unschärfe bieten solche Projektionen aber Mehrwert. Sie dürfen nur nicht als Prognosen missverstanden werden. Sie erheben nicht den Anspruch, die künftige Verschuldung der öffentlichen Hand genau zu berechnen. Der Bericht des EFD drückt es so aus: „Die Langfristperspektiven stellen somit nicht dar, wie die Zukunft sein wird, sondern wie sich die aktuellen Rahmenbedingungen und Tendenzen in der Zukunft auswirken werden.“ In diesem Sinne liefern die Analysen zumindest drei Erkenntnisse.

  • Erstens offenbaren sie, dass bei ausbleibenden und unzureichenden Reformen die gebundenen, mit der demografischen Entwicklung zusammenhängenden Ausgaben andere, für ein funktionierendes Gemeinwesen ebenfalls wichtige Ausgabenkategorien verdrängen werden. Zu denken ist an Investitionen in die Bildung, die Infrastruktur und die Sicherheit. Im Bundeshaushalt werden die gebundenen Ausgaben heute auf rund 55% oder rund 35 Mrd. Fr. geschätzt, wovon 90% auf die Aufgabengebiete  «Finanzen und Steuern» und «Soziale Wohlfahrt» entfallen. Deren  Anteil am Gesamthaushalt wuchs von 35% im Jahr 1990 auf 48,8% im Jahr 2012.
  • Zweitens decken sie den grossen Handlungsbedarf bei den Sozialversicherungen auf. Die Anpassung der AHV und der IV an die demografischen Trends und die von Avenir Suisse geforderte Einführung einer Schuldenbremse in den Sozialversicherungen werden von den Projektionen gestützt.
  • Drittens wird deutlich, dass die Zuwanderung bis zur Jahrhundertmitte die Verschlechterung der öffentlichen Finanzen bremst. Diese Information kann dazu beitragen, die Migrationsdiskussion zu versachlichen und vor populistischen Schnellschüssen zu warnen.